Wer braucht schon Liebe
Augen (groß und rund), aber eine andere Farbe (ihre grün, meine blau). Ich frage mich, wo sie jetzt ist, ob sie mich sehen kann, ob sie meine Gedanken hört. Oder ob sie für immer weg ist. Meine Kehle brennt und ich fange an zu weinen. Ich lege das Foto wieder zurück und klappe das Album zu. Ich presse es an meine Brust. Schließlich bücke ich mich, um es unter das Bett zu schieben. Da fällt etwas heraus. Ein Umschlag. Ich habe nicht viel Post bekommen in meinem Leben, also weiß ich, wer ihn mir geschickt hat. Ich lasse das Album auf dem Boden liegen und lasse mich rücklings aufs Bett fallen. Ich nehme den Brief aus dem Umschlag.
Er ist auf einem DIN -A4-Kanzleibogen geschrieben. Oben steht keine Adresse, aber ich weiß, wo er geschrieben wurde. Irish College. Vorletzten Sommer war Rachel drei Wochen dort und hat versucht, besser zu werden in der Sprache, die wir alle zu lernen gezwungen sind. Er fängt nicht an mit » Liebe Alex«, sondern kommt gleich zur Sache:
Hol mich hier raus! OH MEIN GOTT , warum müssen wir diese verdammte » Sprache« lernen? Die muss noch von der Arche Noah stammen. Genauso wie das Irish College. Unser Lehrer ist Damien aus Das Omen . Unsere bean an tí (Hausmutter, falls du nicht weißt, was das ist) erinnert mich an die Hexe aus » Hänsel und Gretel« – nur dass sie uns verhungern lässt, statt uns zu mästen. Ich fass es nicht, dass diese Schule hier 1000 Euro kostet. Wenn ich nicht genau wüsste, dass meine Mum mich umbringen würde, dann würde ich Englisch sprechen, nur damit sie mich rauswerfen. Oh Gott, es tut so gut, Englisch zu sprechen – selbst wenn ich dafür einen Brief schreiben muss. Nichts für ungut.
Schreib zurück. Sonst.
Ich vermisse dich schrecklich.
ICH HASSE GÄLISCH !
Rachel.
PS : Schick mir Kaugummi. Am liebsten mit Kirschgeschmack.
Ich falte ihn wieder zusammen, und dabei weiß ich genau, dass sie so etwas jetzt nie schreiben würde.
Am Freitagabend sind wir im Kino. Sarah folgt wie gebannt der neuesten romantischen Komödie, während ich mich frage, wie ich da bloß hineingeraten bin – ich meine, dass Sarah mit zu mir nach Hause kommt, um die ganze Nacht bei mir zu bleiben. Vielleicht könnte ich sie unter Drogen setzen. Auf einer Skala von eins bis zehn ist der Film eine Vier, und es lohnt sich nicht weiter, darüber zu reden, als wir aus dem Kino kommen. Draußen wartet Mike. Ich klettere auf den Rücksitz und rutsche hinüber, um Platz zu machen für Sarah. Aber als ich nach ihr schaue, stelle ich fest, dass sie gar nicht hinter mir ist. Vorn schlägt eine Tür zu, und da ist sie, greift nach dem Sicherheitsgurt. Mike wirft mir einen verwirrten Blick zu. Ich zucke mit den Schultern und strecke mich dann, um die hintere Tür zu schließen. Wir fahren los. Während der Fahrt sieht Sarah ihn immer wieder von der Seite an.
» Ist das eine neue Frisur?«, fragt sie schließlich. Die Art, wie sie es sagt, klingt merkwürdig – so als würde sie ihm mit den Fingern durch die Haare fahren wollen oder so was.
» Äh, ja«, sagt Mike und hält die Augen auf die Straße gerichtet.
» Steht Ihnen«, zwitschert sie.
Ich stöhne innerlich auf.
» Also, aus welchem Teil von London kommen Sie?«, fragt sie.
Im Rückspiegel sehe ich, wie Mikes Augen sich weiten, so als wollte er sagen: » Hilfe.«
Ich versuche, nicht zu lachen.
» Tower Hamlets«, sagt er.
Sagt mir nichts. Und ich bin mir ziemlich sicher, Sarah sagt es auch nichts.
» Und wie sind Sie zum Sicherheitsdienst gekommen?«
Ich muss mein plötzliches Herausprusten in einem Hustenanfall ersticken. Mike gibt mir eine Flasche Wasser.
» Ich habe auf eine Anzeige geantwortet«, sagt er.
Jeder andere würde den Hinweis verstehen. Nur Sarah nicht. Sie fragt weiter. Das Komische daran ist, dass es ganz normale Fragen sind, die sie aber vorträgt, als wäre sie Marilyn Monroe, wenn die » Happy Birthday, Mr President« singt. Was tut sie da? Selbst wenn sie eine Chance hätte – hat sie nicht –, würde es Mike den Job kosten. Wenn er so dumm wäre. Ist er nicht. Wahrscheinlich würde es nichts ändern, wenn ich ihr sage, dass er mindestens Mitte dreißig ist. Igitt!
Endlich biegen wir in unsere Auffahrt ein. Mike sieht erleichtert aus. Ich bin es jedenfalls.
Sarah haucht ihr » Ciao!« an Mike wie eine Zeile aus Romeo und Julia – nämlich die: » So süß ist Trennungswehe«.
Und ich wünschte, Rachel wäre hier und würde die Augen verdrehen.
Wenn ich zu Sarah sagen würde »
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