Wer braucht schon Liebe
sein kann. Er weint nicht. Wer wüsste das besser als ich.
» Ist alles in Ordnung mit dir?«
Er schnappt sich die Sonnenbrille, setzt sie wieder auf und lächelt. » Die Zwiebeln!«
Ich sehe nach unten. » Frühlingszwiebeln?«
Das übergeht er.
Ich sehe ihn genau an. » Hast du dir einen Termin für die Untersuchungen geben lassen?«
» Yep«, sagt er viel zu schnell und leichthin.
» Für wann?«
» Morgen.«
Ich versuche ihn mit meinem Blick niederzuzwingen. Doch ich starre nur auf mein Spiegelbild in seiner Sonnenbrille.
» Morgen, ich verspreche es.«
Kaum komme ich am nächsten Tag nach Hause, frage ich nach dem Ergebnis der Röntgenbilder.
» Bandscheibenvorfall.«
» Nur ein Bandscheibenvorfall?«
» Nur ein Bandscheibenvorfall.«
» Kann ich sie sehen?«
» Was, die Röntgenbilder?«
» Ja.«
» Ich habe sie nicht.«
» Wo sind sie?«
» Ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich sie im Krankenhaus gelassen.«
» Dad!« Mein Gott.
» Daran ist das Valium schuld. Es vernebelt mir den Kopf.«
» Du musst anrufen. Du musst die Röntgenbilder aufheben.« Erinnert er sich denn an gar nichts mehr? Andererseits war er nie da.
» Okay«, sagt er. » Ich rufe an.«
» Wann?«
» Gleich als Nächstes.«
» Okay. Denn ich will sie sehen.«
Ich habe einen ziemlich ansehnlichen Stapel über Rückenschmerzen und Bandscheibenvorfall angesammelt. Er braucht ein Brett unter seiner Matratze. Er muss spazieren gehen. Schwimmen ist gut. Aber nicht jeder Schwimmstil. Ich habe mir eine Seite mit den verschiedenen Gerätschaften ausgedruckt, die helfen könnten: ein spezieller Autositz, eine Rolle, um seine Lendenwirbelsäule zu stützen, ein Wärmegürtel. Wenn das Schlimmste vorbei ist, könnte Pilates helfen, die Muskeln zu stärken, die das Kreuz stabilisieren. Ich sammele die Blätter ein und lege sie in die Mappe. Ich gehe hinunter.
Einmal will ich ihn finden und da finde ich ihn nicht. Als Erstes sehe ich in der Küche nach (was deutlich zeigt, wie sehr sich die Dinge hier geändert haben). Ich sehe im Arbeitszimmer und im Keller nach und bin froh, dass ich dort niemanden antreffe. Ich gehe nach draußen, weil er neuerdings oft allein durch den Garten spaziert. Erst als ich frierend hier draußen stehe, sehe ich ihn – drinnen. Er steigt in den Pool, klettert ganz langsam hinein, als würde jeder Schritt ihm große Schmerzen bereiten. Im Winter ist die Tür zum Pool verschlossen, also muss ich zurück und durchs Haus gehen.
Als ich zum Pool komme, hat er es geschafft, hineinzuklettern. Er steht bis zu den Hüften im Wasser, mit dem Rücken zu mir. Gerade will ich ihn rufen, da bemerke ich, dass etwas nicht stimmt. Er zittert. Er zittert am ganzen Körper. Dann lässt er den Kopf in die Hände sinken. Ein lautes Schluchzen hallt von den gefliesten Wänden wider. Oh mein Gott. Er weint – mein Vater, der nie weint, der gar nicht weiß, wie das geht. Ich ziehe mich zurück; in meinem Kopf spielen die Gedanken Fangen. Er hat gelogen wegen der Untersuchungen. Es ist mehr als » nur« sein Rücken. Er versteckt sich hinter seiner Sonnenbrille – weil er nicht will, dass ich es erfahre. Er rasiert sich nicht mehr – denn wozu soll das jetzt noch gut sein? Er ist nett zu mir – weil er bald nicht mehr da sein wird.
Ich renne auf mein Zimmer, werfe die Ausdrucke in den Papierkorb und lasse mich aufs Bett fallen. Von irgendwo tief aus meinem Inneren kommt ein Klagelaut. Ich ziehe die Knie an die Brust und schlinge die Arme darum. Aber es ist sinnlos. Ich kann es nicht unterdrücken. Laute, geräuschvolle Schluchzer bahnen sich den Weg, dann weine ich, als wäre mein Herz gebrochen. Und vielleicht ist es das ja auch. Unten im Pool ist der Mann, der mich Huckepack genommen hat, der mir das Radfahren beigebracht und der mir Märchen vorgelesen hat. Wie leichtfertig habe ich das alles aus meiner Erinnerung verbannt – damit ich ihn hassen konnte. Tränen strömen mir über das Gesicht, eine Springflut aus Salzwasser – und Rotz. Mein Körper zittert. Ich umarme mich fester. Aber ich kann einfach nicht aufhören.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagelegen habe, als ich ein leises Klopfen an der Tür höre. Ich presse die Lippen aufeinander. Wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Wische mir erst mit dem einen, dann mit dem anderen Ärmel über die Nase. Ich antworte nicht und hoffe, dass er wieder geht. Er klopft noch einmal. Dann öffnet sich langsam die Tür.
Beim Anblick meines Gesichts erwarte
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