Wer bricht das Schweigen (German Edition)
Frau Sander.“
„ Ich heiße Martina“, sagte ihre Begleiterin schnell. „Macht es Ihnen etwas aus, mich mit meinem Vornamen anzureden?“
„ Dann müssen Sie mich Janina nennen. Ich verstehe nicht, wie Sie darauf kommen, dass Ihre Tochter nicht gern mit Ihnen zusammen ist“, fuhr sie gleich darauf unbeirrt fort. „Regina ist ein liebes Mädchen. Dass sie nicht gerne alleine mit einem Erwachsenen spazieren geht, müssen Sie verstehen. Für das Kind ist es lustiger, mit seinen Klassenkameraden unterwegs zu sein. Ich erinnere mich noch daran, dass ich auch nichts davon hielt, mit meinen Eltern spazieren zu gehen. Dabei kam ich mir immer wie das fünfte Rad am Wagen vor, weil sich ja doch niemand mit mir unterhielt.“
„ Ich unterhalte mich schon mit meiner Tochter, aber ich glaube, sie merkt ganz genau, wie schwer ich mich damit tue, über Belangloses zu reden. Ich leide
unter schweren Depressionen “, gestand sie. „Seit Reginas Geburt hat sich die Krankheit immer mehr gesteigert. Die schweren Mittel, die mir mein Arzt verschrieben hat, haben mir immer nur für den Augenblick geholfen. Ich musste die Dosis erhöhen, um überhaupt noch eine Wirkung zu spüren.“
„ Ist Ihr Mann deshalb ...“ Janina brach verlegen ab. Es stand ihr nicht zu, derart indiskrete Fragen zu stellen.
„ Sie meinen, ob er uns deshalb im Stich gelassen hat? Natürlich, nur deshalb. Welcher Mann hat schon gern eine Frau um sich, die ständig irgendwelche Ängste mit sich herumträgt? Ich war nicht einmal mehr fähig, alleine in ein Kaufhaus einkaufen zu gehen. Oft musste ich meinen Einkaufswagen einfach stehen lassen und hinaus ins Freie laufen, weil ich Platzangst bekam. Welcher Mann macht das schon lange mit? Doktor Baumann vielleicht“, meinte sie nachdenklich. „Bei ihm habe ich gemerkt, dass er sehr viel Geduld und Verständnis für meine Erkrankung aufbringt. Wenn ich ihn nicht gefunden hätte, wäre ich vielleicht gar nicht mehr am Leben.“
Michael hatte gar nichts gesagt, dass er Reginas Mutter persönlich kannte. Wie kam Martina eigentlich dazu, den Arzt so in den Himmel zu heben? Er schien ihr zufällig das richtige Mittel aufgeschrieben zu haben. Jeder Patient reagierte eben unterschiedlich auf Medikamente.
„ Sie überlegen jetzt sicher, wie Doktor Baumann mir helfen konnte“, fuhr ihre Begleiterin fort. „Ein Wundermittel kann auch er mir leider nicht verschreiben. Ich bekomme nur ein leichtes Beruhigungsmittel von ihm. Von den starken Mitteln, die mir mein Hausarzt früher immer verschrieben hat, und die mich süchtig machten, hat er mich allmählich weggebracht. Was mir aber am meisten geholfen hat, wenn ich wieder einmal ganz am Boden war ist, dass er sehr viel Zeit mit mir verbracht hat. Für ein solches Leiden hat kaum jemand Verständnis. Darum werde ich Doktor Baumann auch nie vergessen, was er für mich getan hat.“
„ Er ist Arzt. Es ist seine Pflicht …“
„ Ich habe genügend Ärzte kennengelernt, die ihre Pflicht nur darin sehen, eine Überweisung oder ein Rezept zu schreiben“, unterbrach sie die junge Frau erregt. „Sie müssen nur einmal hier im Ort nachfragen, was Doktor Baumann alles leistet. Das geht weit über seine ärztliche Pflicht hinaus. Selbst eine Melkmaschine konnte er kürzlich reparieren, wie mir eine Nachbarin erzählt hat.“
Martina schwärmte ja förmlich von ihm. Ob sie mehr für ihn empfand, als nur Dankbarkeit? Janina kam sich ertappt vor, als Martina fortfuhr: „Es hat mir richtig gut getan, einmal mit Ihnen über alles reden zu können. Ich hoffe nur, es hat Ihnen nichts ausgemacht.“
„ Ganz bestimmt nicht, Martina. Ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass ich anfangs erschrocken war, wie offen Sie über alles reden können.“
„ Das funktioniert nicht bei jedem, Janina“, gestand ihre Begleiterin lächelnd. „Sie waren mir eben auf Anhieb sympathisch. Hier in Diebach weiß sonst niemand über meine Krankheit Bescheid. Außer Doktor Baumann natürlich. Ich musste leider viel zu oft erleben, wie wenig Verständnis die Menschen für dieses Leiden haben. Man hat mir sogar schon gesagt, dass ich reif für die Klapsmühle wäre. So falsch ist das ja eigentlich auch gar nicht“, meinte sie einsichtig.
„ Unsinn. Sie sind so normal wie wir alle, Martina. Und jetzt werden wir uns um das Feuer kümmern müssen“, schlug Janina vor. „Sonst müssen die Kinder ihre Würstchen kalt essen.“
„ Sie haben einen
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