Wer bricht das Schweigen (German Edition)
zurückkommt.“
„ Ich glaube gar nicht, dass er noch zurückkommt. Zu mir hat er nur gesagt, dass ich mich solange um die Kleine kümmern soll, bis sich das Jugendamt bei mir meldet. Einige Jahre jünger müsste ich noch sein, dann würde ich darum kämpfen, dass Natalie bei mir bleiben kann. Aber so ist es schon eine große Mühe für mich, das Kind zu versorgen“, gestand sie betrübt. „Ich würde mir für Natalie eine junge Pflegefamilie wünschen, die sie wirklich lieb hat.“ Sie fuhr sich über die Augen, weil sie ihr auf einmal feucht wurden. „Eine Familie, in der sie wie ein eigenes Kind aufwachsen kann. Aber wo sollte man so etwas finden? Die jungen Leute wollen doch heute meistens gar keine Kinder mehr, weil sie ihr Leben genießen wollen. Für ein fremdes Kind ist doch da ohnehin kein Platz.“
„ Das dürfen Sie nicht sagen, Frau Köhler. Ausnahmen hat es schon immer gegeben“, meinte die Besucherin überzeugt. „Es gibt genügend verzweifelte junge Paare, die sich vergeblich ein Kind wünschen und froh sind, eines adoptieren oder in Pflege nehmen zu können.“ Sie stand auf. „Vielleicht fällt mir noch etwas ein, wie man Natalie helfen könnte.“
„ Da müssten Sie sich aber schon sehr beeilen, Frau Krämer. Ich vermute, das Jugendamt wird sich nicht lange Zeit lassen, um die Kleine bei mir abzuholen. Es sei denn, Herr Sommer hat schon wieder vergessen, dass er sich darum kümmern will. Aber so verantwortungslos wird er doch hoffentlich nicht sein.“
Der Bus stand schon da, als Lisa Krämer an der Haltestelle ankam. Die Heimfahrt nach Diebach wurde ihr fast zu kurz, denn die Unterhaltung mit Frau Köhler hatte sie sehr nachdenklich gestimmt. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte vielleicht doch noch alles gut werden.
* * *
„Das rechnet sich doch im Leben nicht“, hatte sein letzter Gesprächspartner behauptet, den Michael angerufen hatte. „Bei den weiten Entfernungen, die Sie zurücklegen müssen, um zu einem Patienten zu kommen, verdienen Sie ja gerade einmal das Nötigste zum Leben.“
Ganz unrecht hat der Mann natürlich nicht, gestand sich Michael ein. Dafür lebte er aber hier noch in einer schönen und vor allem gesunden Gegend. Aber darauf schienen die Leute alle keinen Wert zu legen, mit denen er gesprochen hatte. Die meisten hatten ihn damit vertröstet, dass eine derartige Entscheidung gut überlegt werden müsste.
Michael wollte und konnte nicht mehr länger hierbleiben. Der Gedanke, Diebach verlassen zu müssen, war schon zu einer fixen Idee bei ihm geworden. Ihm war natürlich klar, dass ihm niemand einen Vorwurf machen würde. Es war sein Gewissen, das ihm keine Ruhe mehr ließ. Ihm konnte er nicht entfliehen, solange er hier war. Darum hatte er sich entschlossen, irgendeinem unterentwickelten Land seine Dienste anzubieten. Er wartete jetzt nur noch auf die Unterlagen, die man ihm dafür zuschicken wollte. Er wollte dorthin gehen, wo seine Hilfe am dringendsten gebraucht wurde. Vielleicht würde sich dann eines Tages auch sein Schlaf wieder einstellen. Mit Schaudern erinnerte er sich an die letzten Nächte, in denen er verzweifelt darum gekämpft hatte, wenigstens für eine kleine Weile Vergessen zu finden.
Sein Herz tat weh, wenn er an Janina dachte. Wie konnte ich sie nur einfach so weggehen lassen? warf er sich vor. Ich hätte ihr meine Schuld eingestehen müssen, sie hätte es bestimmt verstanden. Stattdessen hatte er sie wie eine Fremde behandelt. Sie musste doch jetzt denken, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte. Ob er Janina anrufen sollte, um ihr alles zu erklären? Aber was würde das ändern? Der Abschied wurde ihm dadurch nur noch schwerer. Er wusste, dass es nie eine andere Frau als Janina für ihn geben konnte. So viele Jahre hatte er damit verbracht, auf seine Traumfrau zu warten, und nun, da er sie endlich gefunden hatte, musste er wieder aus ihrem Leben gehen. Aber er hatte seinen Weg gewählt, und davon konnte ihn nichts mehr abbringen.
Janina wird ein Leben lang denken, dass ich nur meinen Spaß mit ihr haben wollte. Der Gedanke war unerträglich für ihn. Er griff zum Hörer, ließ ihn aber gleich wieder auf die Gabel fallen. Was sollte er ihr am Telefon schon sagen? Wahrscheinlich würde er ja doch kaum ein Wort herausbringen. Ich muss zu ihr, das bin ich ihr schuldig, entschied er. Auch wenn es noch so weh tut, ich muss ihr einfach sagen, dass sie für immer meine einzige Liebe bleiben wird.
Er hörte
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