Wer bricht das Schweigen (German Edition)
auf. „Wieso arm?“, fragte sie. „Hat die Kleine denn keine Eltern mehr?“
„ Ach, das wissen Sie nicht? Hier in Windsheim dürfte es bestimmt keinen mehr geben, der von dem schrecklichen Unfall nichts weiß. Die Mutter der Kleinen ist tot. Ich dachte eigentlich, Sie würden von der Beerdigung kommen.“
„ Sie meinen, weil ich dieses dunkle Kostüm anhabe? Das ziehe ich immer an, wenn ich in die Stadt fahre“, erklärte die Haushälterin. „In meinem Alter finde ich dunkle Farben einfach passender. Sie haben recht, Frau Köhler, das arme Kind“, bestätigte sie mitfühlend, denn sie wollte unbedingt beim Thema bleiben.
„ Ein allzu großer Verlust ist Frau Sommer für die Kleine sicher auch nicht“, stellte Frau Köhler nachdenklich fest. „Mir hat Natalie oft sehr leid getan, wenn ich wieder einmal mitbekam, wie wenig sie sich um ihr Kind gekümmert hat. Dann habe ich Natalie immer zu mir genommen, ihr zu essen gegeben, und mit ihr gespielt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich die Kleine immer war, wenn sie zu mir durfte. Wie es jetzt allerdings weitergehen wird, das weiß ich auch nicht.“
Das waren ja erstaunliche Neuigkeiten. Ob ihr Doktor wusste, dass Frau Sommer ein Kind hat? Aber ändern würde sich dadurch auch nichts. Er würde sich nur noch größere Vorwürfe machen.
„ Mir bricht es fast das Herz, wenn ich daran denke, dass Natalie jetzt vielleicht in ein Waisenhaus muss“, fuhr die Hausbesitzerin fort. „Das Kind hat bestimmt noch nicht viel Schönes in seinem Leben gehabt.“
„ Wo ist eigentlich der Vater? War ihre Mieterin denn nicht verheiratet.“
„ Das war sie. Den Mann können Sie gleich vergessen, der taugt nämlich überhaupt nichts“, meinte sie überzeugt. „Dieser Herr Sommer ist ein arroganter und überheblicher Schönling, dem nie ein Gruß über die Lippen kam, wenn er an mir vorbeiging. Aber er war ja auch kaum da.“
„Der Mann arbeitet sicher auswärts?“, vermutete die Besucherin.
„ Arbeiten?“ Frau Köhler lachte auf. „Ich glaube nicht, dass der Mann überhaupt weiß, was Arbeit heißt. Ein Spieler ist er. Das ganze Geld hat er auf den Kopf gehauen. Niemand wollte den Leuten noch etwas geben. Weder in der Bank, noch in dem kleinen Supermarkt hier um die Ecke, konnte Frau Sommer noch etwas bekommen. Sie war vielleicht gar nicht so übel, wenn ich mir noch einmal alles so überdenke. Hörig war sie ihrem Mann, das war ihr großes Problem. Dabei war sie eine schöne Frau, soweit ich das beurteilen kann. Dem Scheuermann, einem Nachbarn von mir, hat sie ganz schön den Kopf verdreht. Dass es Frau Sommer dabei nur um sein Geld ging, hat der dumme Kerl erst gemerkt, als sein Bankkonto leer war. Dann hat sie nämlich schnell das Interesse an ihm verloren. Wenn die Frau wenigstens etwas Vernünftiges damit eingekauft hätte. Aber nein! Ihrem Mann hat sie es gegeben, damit er es auf der Rennbahn verwetten kann.“
Lisa Krämer sperrte Augen und Ohren auf, während ihre Banknachbarin erzählte. Dabei bemerkte sie nicht einmal, dass die kleine Natalie sich inzwischen mit ihrer Handtasche die Langeweile vertrieb. Erst als ihr dicker Schlüsselbund klirrend auf den Boden fiel, wurde sie auf das Kind aufmerksam. Sie hob die Schlüssel auf und gab sie ihm wieder, damit es damit spielen konnte. Ihre Augen wurden feucht, als sie daran dachte, wie ungewiss die Zukunft dieses Kindes aussah.
„ Haben Sie mit Herrn Sommer schon darüber geredet, wie seine weiteren Pläne jetzt aussehen? Will er seine Wohnung in Ihrem Haus weiter behalten?“
„ Darüber hat der Mann bestimmt noch nicht nachgedacht. Wozu auch? Nachdem er keine Miete bezahlt, ist es doch so ganz bequem für ihn.“
„ Sie lassen Herrn Sommer umsonst bei sich wohnen?“, vergewisserte sich die Besucherin.
„ Wir haben eine Miete vereinbart, aber in den acht Monaten, die diese Leute schon bei mir wohnen, habe ich nur ein einziges Mal von Frau Sommer Geld bekommen. Damals fürchtete sie wohl noch, ich würde ihnen die Wohnung wieder wegnehmen. Mit der Zeit hat sie dann gemerkt, dass ich das nie fertigbringen würde. Nur dem Kind zuliebe habe ich das gemacht“, gestand die alte Frau. „Ich bin ja auf das Geld zum Glück nicht angewiesen.“
Lisa Krämer warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Schade, dass ich gleich zum Bus muss“, meinte sie bedauernd. „Ich hätte Herrn Sommer gerne noch gesehen, wenn er von der Beerdigung
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