Wer den Himmel berührt
das Haar, konnte sich aber nicht dazu zwingen, lange genug stillzusitzen, um etwas zu lesen. Etwa um elf schlenderte sie in ihrem alten Frotteebademantel auf die Veranda, setzte sich hin und starrte in die Dunkelheit hinaus, bis sie das Laub an den Bäumen am Ende der Straße erkennen konnte. Musik, die von »Addie’s« kam, drei Straßen weiter, drang durch die Nachtluft. Das Klagen eines Saxophons erfüllte sie mit einem Gefühl von entsetzlicher Einsamkeit. Vielleicht hätte sie doch mit Fiona ausgehen sollen.
Und doch wußte sie, daß das bloße Zusammensein mit anderen Menschen das Gefühl der Isolation nicht abgeschwächt hätte, das ihr immer wieder zu schaffen machte. Für eine viel zu kurze Zeit hatte sie geglaubt, vielleicht doch endlich zu jemandem zu gehören, das Gefühl gehabt, für jemanden der wichtigste Mensch auf Erden zu sein, vielleicht doch zu jemandem zu passen. Aber Ray Graham hatte ihr gezeigt, daß das nicht stimmte. In Wahrheit war sie doch allein.
Trotz der Freundlichkeit aller, mit denen sie hier oben zu tun hatte, wußte Cassie, daß es nichts weiter als eine Durchgangsstation war. Nach ein oder zwei Jahren würde sie von hier fortgehen, und kurz darauf würde sich niemand mehr an ihren Namen erinnern. »Ach ja, richtig, diese Ärztin.« Niemand würde beklagen, daß sie aus seinem Leben verschwunden war?
Jemand lief über die Straße, mit schnellen und zielstrebigen Schritten. Cassie schaute von ihrem Stuhl aus, den sie günstig plaziert hatte, in die Nacht hinaus. Es war Chris Adams, der forsch ausschritt und weder nach links noch nach rechts schaute.
Als er an ihrem Haus vorbeikam, rief sie ihm zu: »Guten Abend, Chris.«
Er blieb abrupt stehen und schaute in ihre Richtung. »Fi? Bist du das, Fiona?«
»Nein.« Sie stand nicht von dem Stuhl auf. »Ich bin es, Cassie.«
»Oh, guten Abend«, sagte er, und sie schwor, wenn er einen Hut auf dem Kopf gehabt hätte, hätte er ihn vor ihr gezogen – so förmlich war sein Benehmen. »Weshalb sind Sie an einem Samstagabend zu Hause?«
»Machen Sie gerade Ihren abendlichen Verdauungsspaziergang?«
»So könnte man es nennen.« Er blieb einen Moment lang stehen, doch in der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen. »Ja, also, dann guten Abend.« Er nahm seine schnellen Schritte wieder auf und lief durch die Straße Richtung Stadtrand.
Ein merkwürdiger Mann. Unbeholfen, wenn es um gesellschaftlichen Umgang und Konversation ging. Worum es sich auch handeln mochte, er wich keinen Zentimeter von seinem Standpunkt ab. Sogar seinen Patienten gegenüber trat er schroff und geradezu ein wenig herablassend auf. Der Arzt als Gott. Ein verbreitetes Syndrom. Sie fragte sich, ob Eiswasser in seinen Adern floß.
Sie schlief mit dem Buch in der Hand ein, das sie den ganzen Abend über zu lesen versucht hatte, und als sie am Morgen erwachte, war es auf den Boden gefallen, und ihr Bettzeug war so zerwühlt, als sei eine Armee über ihr Bett marschiert. Ihr Kissen war feucht von Tränen, und sie konnte sich erinnern, woher das kam. Sie hatte von Ray Graham geträumt, seine Lippen auf ihren gespürt und sich daran erinnert, was für ein Gefühl es gewesen war, seine Arme um sich zu spüren. Nie wieder, sagte sie sich. Nie, nie wieder.
In der kommenden Woche flogen sie nur ein einziges Mal aus der Stadt heraus, und zwar zu einem Routinebesuch auf einem der Gehöfte, auf dem die Frau des Besitzers im achten Monat schwanger war. Die drei Kinder, die sie bereits hatten, alle unter fünf Jahren alt, waren nie geimpft worden. Keines von ihnen hatte je auch nur einen Arzt gesehen, da sie mehr als dreihundert Kilometer von der Stadt entfernt lebten. Sie untersuchte außerdem die eingewachsenen Zehennägel des Kochs und den verstauchten Knöchel von einem der jungen Arbeiter, die sich anlernen ließen. Von dort aus flogen sie zu einem benachbarten Gehöft, und dort impfte Cassie nicht nur die Kinder, darunter drei Aborigines, sondern schiente auch das gebrochene Bein eines Hundes. Das Kindermädchen hatte seit drei Tagen Durchfall, und daher beharrte Cassie darauf, sie nach Augusta Springs mitzunehmen. Die arme junge Frau konnte kaum stehen. Sam half ihr im Flugzeug auf die Tragbahre. Wenn sie sich nicht in der Luft befanden, stand er die meiste Zeit nur herum und redete mit allen Anwesenden. Wo immer er auch war, hörte Cassie Gelächter.
Am Samstag, als Fiona keinen Unterricht hatte, frühstückten die drei bei »Addie’s«, ehe sie nach
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