Wer den Himmel berührt
»Die wird dich schon nicht behindern.«
Cassie schaute auf das Wasser, das so schnell floß, und sie fragte sich, wie jemand dort das Gleichgewicht behalten konnte. Die Hälfte der Aborigines war bereits durch den Fluß gewatet und hatte das andere Ufer erreicht. Sechs von ihnen standen am Ufer und streckten die Hände aus.
»Sie werden eine Kette bilden, und wir werden einander an den Händen halten, bis wir drüben angekommen sind. Sieh mal, Doc, ich bin hier, direkt neben dir. Ich passe schon auf, daß dir nichts passiert.«
»Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich mich fürchte?«
»Du wärst verrückt, wenn du dich nicht fürchten würdest.«
»Fürchtest du dich?«
Sam zog sich gerade das Hemd aus. »Ich bin doch nicht verrückt. Ich habe gesunden Respekt vor der Natur. Es sieht ganz so aus, als könnte das Spaß machen, findest du nicht auch? Hast du keinen Spaß an Herausforderungen?«
Sie begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Doch, vielleicht schon.« Sie nahm tatsächlich wahr, daß ihre Sinne sich verschärften, und sie verspürte sogar eine gewisse Faszination. Vielleicht hatte es seine guten Seiten, gefährlich zu leben.
Sam stieg aus seiner Hose, packte sie in sein Hemd und schnürte es zu einem Bündel. »Mach dir einfach vor, es sei ein Badeanzug«, sagte er zu ihr. »Hier, ich kann deinen Rock und deine Bluse in mein Bündel packen. Ich trage die Sachen. Die Strömung ist stark. Halte dich an meiner Hand und an der Hand des schwarzen Kerls fest, der vor dir steht. Er wird dich nicht loslassen, und ich lasse dich auch nicht los.«
Cassie wußte, daß Sam sie trotz seines Versprechens betrachtete. Damit würde sie sich jetzt nicht aufhalten – sie würde an das Baby denken, das vielleicht sterben könnte, wenn sie es nicht erreichte. An die Eltern denken, die rasend vor Sorge ihr Eintreffen erwarteten. Was Sam anging, so sah er ganz genauso aus, wie sie es sich gedacht hatte: viel zu dürr.
Trotzdem empfand sie es als beruhigend, als seine kräftige Hand ihre packte und sie festhielt, und sie streckte die andere Hand nach dem Schwarzen vor sich aus. Auch er umklammerte sie fest. Sie begannen, sich einen Weg durch das schnell strömende Wasser zu bahnen. Der Boden war sandig und glitschig, und sie rang darum, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während sie gegen die Strömung ankämpfte. Sie erschauerte, als ein Stück Treibholz an ihr vorbeischwamm. Es sah aus wie eine Schlange oder ein Krokodil.
Am anderen Ufer stand Clive Young mit einem Schirm und Handtüchern im Regen und erwartete sie. Sowie Cassie aus dem Fluß stieg, hüllte er sie in ein Handtuch und warf Sam ein weiteres zu.
»Das mit dem Wetter tut mir leid«, sagte er.
»Wie geht es Ihrem Kind?« fragte Cassie und preßte das Handtuch, das sie kaum bedeckte, an sich.
»Es lebt«, war alles, was er sagte, als er einem seiner Jungen die Arzttasche abnahm und ihnen zum Haus voranging.
Mrs. Young saß auf einem Schaukelstuhl und schmiegte ihr Baby eng an sich. Sie warf nur einen Blick auf Sam und Cassie und sagte: »Clive, such für die beiden etwas zum Anziehen heraus.«
Der Pullover und die Hose, die er Cassie brachte, waren viel zu groß, doch sie zog die Sachen eilig an und hoffte, sie würde aufhören zu zittern.
Sie wandte sich ihrem Patienten zu. Die Augen des Babys wirkten eingesunken, und die Haut schien vollständig ausgetrocknet zu sein.
»Er behält keinerlei Flüssigkeit bei sich«, sagte Mrs. Young.
»Es ist ein Magen-Darm-Katarrh«, sagte Cassie, nachdem sie das Kind untersucht hatte. »Wir müssen ihm gewaltsam Flüssigkeit einflößen. Wir müssen das Kind zu den intravenösen Vorrichtungen im Flugzeug schaffen. Bis dahin werden wir ihm teelöffelweise Flüssigkeit oral eintrichtern. Wenn es einen Teelöffel nicht erbricht, können wir es mit zwei Teelöffeln versuchen. Aber es muß wirklich an den Tropf gehängt werden.«
Sie schaute Sam an. Er sah ihr in die Augen. Sie wußten beide, daß das bedeutete, durch den Fluß zurückzuwaten, diesmal
mit
dem Baby, und die zwölf Meilen durch Schlamm und Gestrüpp zum Flugzeug zurückzulaufen.
»Es sollte ins Krankenhaus gebracht werden.«
Die Youngs sahen einander an.
»Einer von Ihnen sollte mitkommen«, sagte Cassie.
»Ich hole meine Tasche«, sagte Mrs. Young und legte das Kind auf das Sofa.
»Ich trage es durch den Fluß«, sagte der Vater.
»Sie werden etwas zu essen brauchen.« Mrs. Young sah von einem zum anderen.
Cassie fragte sich, ob sie
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