Wer einmal auf dem Friedhof liegt...
selben Haus, Rue du Dobropol. Wenn Sie sie besuchen
wollen... Ich kann Sie im Wagen mitnehmen.“
Wir stehen neben einem Kabriolett.
Offensichtlich der Luxusschlitten meiner neuen Freundin. Ich nehme die
Einladung an. Régine braust los. Nach ein paar Radumdrehungen sagt sie:
„Sie haben Glück gehabt, daß wir uns
begegnet sind, daß Sie mir sofort sympathisch waren und daß Yolande überhaupt
in Paris ist. Bis vor ein paar Tagen hat sie sich in der Provinz von dem Schock
erholt.“
„Von welchem Schock?“
„Ihr Freund, der sie ausgehalten hat,
ist Anfang des Jahres gestorben. Ob sie ihn geliebt hat, weiß ich nicht. Aber
ein Schock war’s auf jeden Fall. Vor allem, weil die Umstände so tragisch
waren... Hat sich umgebracht, zusammen mit seiner Ehefrau. Désiris hieß er.
Haben Sie nicht davon gehört?“
Schiefes
Licht auf eine Horizontale
Auf beiden Seiten der Rue du Dobropol
parken Autos. Die meisten sind schicke kleine Zweisitzer mit zurückklappbarem
Verdeck für den Sommer, farblich sicher auf die Dessous der Besitzerin
abgestimmt.
Régine geht mit mir in eins der
sechsstöckigen Häuser, die in der Epoche der Art deco als modern galten. Diese
grünbepflanzten Gebäude stehen da, wo sich früher Befestigungsanlagen befanden,
in Straßen, die an den Balkanfeldzug erinnern sollen: Dobropol, Dardanalles,
Salonique.
Wir fahren mit dem Aufzug in die
dritte Etage. Régines Appartement ist klein, aber hübsch und gemütlich. Es ist
warm und riecht angenehm.
„Setzen Sie sich“, fordert mich meine
Freundin auf. „Ich muß mich schnell mal verhübschen. Möchten Sie was trinken?
Es ist Zeit für den Aperitif... Wie wär’s, essen wir zusammen?“
„Mit dem größten Vergnügen, aber ich
muß arbeiten. Ich bin hier, um Ihre Freundin Yolande zu treffen.“
„Der Vogel wird schon nicht
davonfliegen! Sie wohnt über mir, bei Rita. Ich kümmere mich gleich darum.“
Mit diesem Versprechen verschwindet
sie im Badezimmer. Ich nehme einen Schluck von dem Aperitif, den sie mir
spendiert hat. Régine, Yolande, Rita. Die haben aber auch Namen, diese
Vögelchen! Unter dem Telefontisch liegt ein Fernsprech-buch, das nach Straßen
geordnet ist. Ich seh mir die Rue du Dobropol an. Rita Marson... Yolande
Mège... Consuelo Mogador... Régine Monteil (erinnert mich irgendwie an Régine
de Montille, die Halbweltdame, die 1887 von Pranzini umgebracht wurde)...
Arielle Soundso... Léonore Dings... Chantai Bums... Dann eine Marlène, zwei
Doras... Die Hütte beherbergt auch noch andere Mieter; aber in der Mehrzahl
sind es Mieterinnen dieser Kragenweite. Marie... Joséphine... Jeanne...
Wie hat Régine eben gesagt? Ihre
Freundin Yolande wohne bei Rita... Mal sehn. Rita Marson, Niel 23-00. Yolande
Mège, Niel 34-45. Was denn nun? Wohnt Yolande bei Rita, oder hat sie ein
eigenes Appartement? Ganz schön kompliziert, diese Wohnverhältnisse!
Ich lege das Telefonbuch wieder an
seinen Platz zurück und werfe einen Blick nach draußen auf den Boulevard de
Dix-mude. Auf der anderen Seite sehe ich die leprösen Mauern einer
stillgelegten Fabrik. Früher prangte der stolze Name der Firma auf der
Fabrikmauer. Jetzt hängen Plakate in Fetzen herab.
In der Ferne erkenne ich
Levallois-Perret, die Autostadt. Und noch etwas weiter weg, in Neuilly, liegt
die Île de la Grande-Jatte. Ich muß an Désiris denken.
Plötzlich steigt mir ein feines Parfüm
in die Nase. Ich drehe mich um. Hinter mir steht Régine. Geschminkt, frisiert,
in einem großzügig dekolletierten Kleid, auf ihren hohen Absätzen balancierend,
die Beine in hauchdünnen Nylonstrümpfen. Sie sieht sehr begehrenswert aus.
„Gefalle ich Ihnen?“ fragt sie kokett.
„Und wie!“
Irgend etwas muß immer eine knisternde Atmosphäre
zerstören. So ist es nun mal im wirklichen Leben. Jetzt zum Beispiel heult in
der Ferne eine düstere Sirene auf. Andere antworten ihr, das Geheul kommt immer
näher, und schließlich scheint ganz Paris einen einzigen Klagelaut auszustoßen.
Es ist Donnerstag, der 6. November. Wie an jedem ersten Donnerstag des Monats
probiert unsere besorgte Verwaltung die Alarmanlagen aus. Das Läuten zum
Mittagessen. Her mit der Suppe! Oder versprechen die Sirenen etwa weit weniger
unschuldige Genüsse...?
„Also, essen wir zusammen?“ fragt
meine Sirene Régine.
„Liebend gerne. Aber vorher...“
„Ich weiß. Yolande...“
Sie nimmt den Hörer und wählt die
Nummer ihrer Freun- • din.
„Hallo, Rita“, sagt sie in die
Muschel.
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