Wer einmal lügt
Diner an der Ecke gab es sehr gute Sandwiches. Ray verschlang eins, als fürchtete er, es könnte im letzten Augenblick die Flucht ergreifen. Er versuchte, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren, ohne an die Zukunft zu denken – fragte Milo beim Bezahlen, wie sich sein Rücken machte, und lächelte einem anderen Kunden zu, während er die Lokalzeitung kaufte. Versuchte, sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und keine Pläne zu machen, weil er nicht an das Blut denken wollte.
Er sah in die Zeitung. Der Artikel mit der Überschrift EINWOHNER VERMISST enthielt das gleiche Foto, das er gestern schon in den Fernsehnachrichten gesehen hatte. Carlton Flynn mit Kussmund. Echter Spacko. Er hatte hochgegelte, dunkle Haare mit blonden Strähnen, tätowierte Fitnessstudio-Muskeln, glatte Babyhaut, und sah aus, als würde er in einer dieser abscheulichen Reality-Shows aus Jersey mitspielen, in denen zurückgebliebene, egozentrische Dumpfbacken die Mädchen als »Granaten« bezeichneten.
Carlton Flynn war vorbestraft – drei tätliche Angriffe. Er war sechsundzwanzig, geschieden und arbeitete für den »bekannten Hotellieferdienst seines Vaters«.
Ray faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Er wollte nicht daran denken. Er wollte nicht an das Foto von Carlton Flynn auf seinem Computer denken und auch nicht daran, warum ihn jemand überfallen hatte, um es zu bekommen. Er wollte das Ganze hinter sich lassen, einfach in den Tag hinein leben, einen Augenblick nach dem anderen.
Verdrängen, überleben – so wie er es schon die letzten siebzehn Jahre gemacht hatte.
Hat super funktioniert bisher, Ray, oder?
Er schloss die Augen und gestattete sich eine kurze Erinnerung an Cassie. Er war wieder im Club, vom Alkohol benebelt sah er zu, wie sie einen Kunden mit einem Lapdance beglückte. Er war hundertprozentig zufrieden mit sich selbst – und nicht im Geringsten eifersüchtig. Cassie sah ihn über die Schulter des Mannes an – mit einem Blick, bei dem einem die Zähne zerschmolzen –, und er erwiderte das Lächeln, wartete darauf, dass sie allein war, weil er wusste, dass sie letztendlich bei ihm landen würde.
Wenn Cassie in der Nähe war, hatte immer ein Knistern in der Luft gelegen. Sie war lustig, wild und spontan gewesen, ohne dass ihre ganz besondere Herzlichkeit, Freundlichkeit und ihre Intelligenz zu kurz gekommen wären. Man hatte ihr die Kleider vom Leib reißen und sie aufs nächste Bett werfen wollen – und gleichzeitig ein Liebessonett an sie dichten. Plötzliches Aufblitzen, Glühen, loderndes Feuer, Herzwärme – Cassie konnte all dies auf einmal hervorrufen.
Bei einer solchen Frau, tja – irgendetwas musste da ja schiefgehen, oder?
Er dachte an das Foto bei diesen verdammten Ruinen im Park. Hatte der Räuber es vielleicht darauf abgesehen? Er hielt es für ziemlich unwahrscheinlich. Dann ging er die verschiedenen Szenarien und Möglichkeiten im Kopf durch und traf eine Entscheidung.
Er hatte sich lange genug versteckt. Nach seiner Zeit als berühmter Fotojournalist war er über die schreckliche Entzugsklinik und die schönen Tage hier in Atlantic City schließlich ganz unten angekommen. Darauf war er nach Los Angeles gezogen, wo er sich als echter Paparazzo versucht und wieder in die Scheiße geritten hatte, bevor er dann wieder hierher zurückgekommen war. Wieso? Wieso war er an den Ort zurückgekommen, an dem er alles verloren hatte, wenn ihn nicht … wenn ihn nicht irgendetwas wieder hergezogen hätte? Wenn nicht irgendjemand von ihm verlangt hätte, dass er zurückkam und die Wahrheit aufdeckte?
Cassie.
Er blinzelte so lange, bis ihr Bild vor seinem inneren Auge verschwunden war, ging zu seinem Wagen und fuhr wieder ins Naturschutzgebiet. Der Eingang, den er damals fast täglich benutzt hatte, war immer noch geöffnet. Ray hätte nicht sagen können, was er hier wollte. So viel hatte sich in seinem Leben verändert, eins aber nicht – das Bedürfnis nach einer Kamera. Natürlich gab es diverse Dinge, die einen Fotografen ausmachten, in seinem Fall ging es jedoch nicht um bloßes Talent oder den Wunsch, schöne Bilder zu machen – er brauchte das Fotografieren einfach. Er sah und verarbeitete Ereignisse nicht richtig, wenn er sie nicht fotografieren konnte. Er nahm die Welt erst durch das Objektiv richtig wahr. Für die meisten Menschen existierten Dinge nicht, solange sie sie nicht sehen, hören, riechen oder schmecken konnten. Für ihn war es
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