Wer einmal lügt
Krebserkrankung überlebt. Vor über zwanzig Jahren. Das hatte sie Broome schon bei ihrer ersten Begegnung erzählt. Beide hatten sie in diesem Zimmer gesessen, als er hergekommen war, um der Vermisstenanzeige nachzugehen. Die Krankheit sei diagnostiziert worden, als sie mit Susie schwanger war, hatte Sarah ihm erzählt. Wenn ihr Mann nicht gewesen wäre, erklärte sie, hätte sie niemals überlebt. Das hatte sie Broome sehr deutlich erklärt. Als sie eine schlechte Prognose bekam, als Sarah sich während der Chemotherapie unablässig übergeben musste, als ihr die Haare ausfielen und ihr gutes Aussehen dahinschwand, als ihr Körper zu verfallen begann, als niemand sonst, Sarah eingeschlossen, auch nur noch einen Funken Hoffnung hatte – wieder dieses Wort –,da war er und er allein an ihrer Seite geblieben.
Was wieder einmal zeigte, dass die menschliche Natur in all ihrer Komplexität und Scheinheiligkeit einfach nicht zu erklären war.
Nächtelang hatte er an ihrem Bett gewacht, ihr immer wieder die schweißnasse Stirn abgewischt. Er hatte ihre Medikamente geholt, ihre Wange geküsst, ihren fröstelnden Körper umarmt und ihr so den Eindruck gegeben, geliebt zu werden.
Sie hatte Broome in die Augen gesehen und ihm all das erzählt, weil sie wollte, dass er in dem Fall weiterermittelte und ihren Mann nicht einfach als Aussteiger abtat, sondern sich persönlich darum kümmerte, dass die Liebe ihres Lebens gefunden wurde, weil sie ohne ihn einfach nicht weitermachen konnte.
Siebzehn Jahre später kam Broome immer noch hierher, obwohl er auf viele bittere Wahrheiten gestoßen war. Der Aufenthaltsort von Sarahs Ehemann und der Liebe ihres Lebens war jedoch immer noch ein Geheimnis.
Broome sah sie an. »Das ist gut«, hörte er sich plappern. »Ich meine, dass deine Schwester zu Besuch kommt. Darauf freust du dich doch immer so.«
»Ja, wunderbar«, sagte Sarah absolut ausdruckslos. »Broome?«
»Ja.«
»Du betreibst Smalltalk.«
»Da könnte was dran sein.«
»Was bedeutet das?«
Trotz der hübschen Dekoration – hellgelbe Farbe, frische Blumen – sah Broome im Haus nur Verfall. Die jahrelange Ungewissheit hatte die Familie zerstört. Die Kinder hatten harte Jahre durchlebt. Susie hatte zwei Mal wegen Alkohol am Steuer vor Gericht gestanden. Brandon war wegen Drogenbesitzes festgenommen worden. Broome hatte beiden bei der Bewältigung ihrer Probleme geholfen. Aber das Haus sah immer noch so aus, als wäre ihr Vater erst gestern verschwunden – als wäre die Zeit seit damals stehen geblieben.
Sarahs Augen weiteten sich etwas, als wäre ihr gerade etwas Schmerzliches bewusst geworden. »Habt ihr …?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten«, sagte Broome.
»Aber?«
Broome setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Er atmete tief durch und sah Sarah in die gepeinigten Augen. »Es ist wieder jemand verschwunden. Vielleicht hast du es in den Nachrichten gesehen. Er heißt Carlton Flynn.«
Sarah sah ihn verwirrt an. »Was heißt ›verschwunden‹?«
»Es war genauso wie bei …« Er brach ab. »Carlton Flynn stand mitten im Leben, und plötzlich war er von einem Moment auf den anderen weg. Verschwunden und nicht wieder auffindbar.«
Sarah versuchte zu verstehen, was er ihr gesagt hatte. »Aber … du hast mir doch vom ersten Tag an immer wieder erklärt, dass Menschen manchmal einfach verschwinden, oder?«
Broome nickte.
»Zum Teil aus eigenem Entschluss«, fuhr Sarah fort. »In anderen Fällen eben nicht. Aber so etwas passiert immer wieder.«
»Richtig.«
»Und jetzt ist siebzehn Jahre nach meinem Ehemann dieser Carlton Flynn verschwunden. Ich sehe da keine Verbindung.«
»Gut möglich, dass es keine gibt«, stimmte Broome zu.
Sie beugte sich vor. »Aber?«
»Aber genau deshalb bin ich am Jubiläum nicht hier gewesen.«
»Was soll das heißen?«
Broome wusste nicht, wie viel er ihr verraten sollte. Er konnte nicht einmal sagen, wie viel er selbst wirklich wusste. Er war dabei, eine Theorie zu entwickeln. Eine Theorie, die ihm auf den Magen schlug und nachts vom Schlafen abhielt – aber bisher war es immer noch nicht mehr als eine Theorie.
»Der Tag, an dem Carlton Flynn verschwunden ist«, sagte er.
»Was ist damit?«
»Deshalb war ich nicht hier. Er ist am Jubiläum verschwunden. Am achtzehnten Februar – auf den Tag genau siebzehn Jahre, nachdem auch dein Mann verschwunden ist.«
Sarah wirkte einen Moment lang
Weitere Kostenlose Bücher