Wer einmal lügt
wieder einmal –, und wenn so etwas geschah, wenn es einem Mann, der ganz unten war, gelang, noch tiefer zu fallen, konnte man nur eins tun.
Viel trinken.
Fester beäugte Ray misstrauisch, als er ins Weak Signal kam. Der große Mann, der sich vor nichts fürchtete, ging zaghaft auf Ray zu.
»Hey, geht’s dir gut?«, fragte Fester.
»Habe ich einen Drink in der Hand?«
»Nein.«
»Dann ist das auch meine Antwort, bis sich das geändert hat.«
Fester sah ihn verwirrt an. »Hä?«
»Nein, es geht mir nicht gut. Aber das ändert sich, sobald du deinen fetten Arsch aus dem Weg schiebst, so dass ich mir einen Drink bestellen kann.«
»Oh«, sagte Fester und trat zur Seite. »Alles klar.«
Ray setzte sich auf einen Hocker, und seine Körpersprache forderte den Barkeeper auf, sich zu beeilen. Fester setzte sich neben ihn. Ein paar Minuten lang sagte Fester kein Wort und ließ Ray Zeit, sich zu sammeln. Es war seltsam, aber irgendwie war Fester sein bester Freund geworden – vielleicht sein einziger Freund –, aber auch das war jetzt eigentlich völlig egal. Im Moment hatte er nur das Bild einer schönen Frau im Kopf, die Konturen ihres Gesichts, dieses Gefühl, wie er sie in den Armen hielt, den Duft von Flieder und Liebe, das Bum-Bum-Bum in seiner Brust, wenn sie ihm in die Augen sah – und die einzige Möglichkeit, diese Bilder loszuwerden, war, sie in Alkohol zu ertränken.
Ray sehnte sich nach einem seiner Blackouts.
Der Barkeeper schenkte ihm erst einen, kurz darauf den zweiten ein, zuckte dann die Achseln und stellte ihm die Flasche hin. Ray kippte sie hinunter, spürte das Brennen in der Kehle. Fester leistete ihm Gesellschaft. Es dauerte eine Weile, doch dann machte sich eine angenehme Benommenheit breit. Er genoss das Gefühl, versuchte, es zu pflegen, um den Weg zum Vergessen zu beschleunigen.
»Ich erinnere mich an sie«, sagte Fester.
Ray sah seinen Freund mit trägem Blick an.
»Ich meine, sie kam mir gleich bekannt vor, als sie hier reinspaziert ist. Sie war Tänzerin im La Crème , stimmt’s?«
Ray antwortete nicht. Fester hatte früher bei mehreren Clubs als Türsteher gearbeitet. So hatten sie sich kennengelernt, vielleicht sogar angefreundet. Fester hatte schon damals den Ruf, einer der Besten in seinem Metier zu sein. Er wusste, wann er zuschlagen musste, und was noch wichtiger war, er wusste auch, wann er sich beherrschen musste. In seiner Nähe hatten die Mädchen sich sicher gefühlt. Verdammt, sogar Ray hatte sich in seiner Nähe sicher gefühlt.
»Voll Scheiße, ich weiß«, sagte Fester.
Ray trank noch einen kräftigen Schluck »Yep.«
»Und was wollte sie?«
»Du willst jetzt nicht ernsthaft mit mir darüber reden, oder, Fester?«
»Das hilft.«
Heutzutage hielt sich wohl jeder für einen Doktor der Psychologie. »Einen Scheiß tut das. Halt einfach den Mund und trink.«
Ray schenkte sich noch einen ein. Fester sagte nichts. Oder wenn er etwas sagte, hörte Ray es nicht. Der Rest der Nacht versank in einem unheimlichen, beklagenswerten Nebel. Er dachte an ihr Gesicht. Er dachte an ihren Körper. Er dachte an ihren Blick, wenn sie ihn mit ihren unglaublichen Augen ansah. Er dachte an alles, was er verloren hatte, und, was noch schmerzhafter war, an alles, was hätte sein können. Und natürlich dachte er auch an das Blut. Irgendwann führte es immer wieder dahin – zu all dem verfluchten Blut.
Dann hatte er dankenswerterweise einen Blackout.
Irgendwann öffnete Ray die Augen und wusste sofort, dass es Vormittag war und er zu Hause in seinem Bett lag. Er fühlte sich, als hätte man ihn in einem Zementmischer herumgeschleudert. Das kam ihm alles so bekannt vor. Er fragte sich, ob er sich im Laufe des Abends noch übergeben hatte. Das Grummeln in seinem Magen deutete darauf hin, dass er Nahrung wollte – vermutete er zumindest.
Fester schlief – oder lag weggetreten – auf der Couch. Ray ging hin und schüttelte ihn. Fester schreckte auf, stöhnte und legte die Hände auf beide Seiten seines riesigen Schädels, als versuchte er, ihn vor dem Platzen zu bewahren. Beide Männer trugen noch die Kleidung vom Vorabend. Beide rochen wie Mülleimer, was sie aber im Moment nicht interessierte.
Sie taumelten aus der Wohnung zu einem Diner um die Ecke. Die meisten Gäste wirkten noch verkaterter als sie. Die Kellnerin, Typ: Ich-hab-alles-schon-gesehen und hochtoupierte Haare, brachte ihnen, noch bevor sie etwas bestellt hatten, eine Kanne Kaffee. Sie war etwas stämmig, genau
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