Wer fuerchtet sich vor Stephen King
Happy End eine gradlinige Geschichte, hält dabei noch nicht einmal die formalen Kriterien durch, sondern beschreibt in kurzen Szenen als allwissender Erzähler die Sorgen von Trishas Eltern, die Suche nach einem Kinderschänder, den Einsatz der Suchkommandos und so weiter. Das tut der Spannung jedoch keinen Abbruch. Dieser Text – für Kings Verhältnisse tatsächlich eher eine Novelle als ein Roman – lebt von der Charakterisierung der Hauptperson eines nicht besonders anspruchsvollen, aber durchaus gelungenen Einpersonenstücks.
Viel mehr Herzblut dürfte Stephen King in sein nächstes Projekt gesteckt haben, den „Roman in Erzählungen“ bzw. Episodenroman ATLANTIS. Zwei Novellen und drei Kurzgeschichten enthält er, die thematisch und durch die Personen miteinander verbunden sind. „Niedere Männer in gelben Mänteln“ (S. 9–284) spielt 1960; „Herzen in Atlantis“ (S. 285–461) 1966; „Blind Willie“ (S. 463–517) 1983; „Warum wir in Vietnam sind“ (S. 519–572) und „Heavenly Shades of Night Are Falling“ (S. 573–590) 1999. Dazu findet sich noch eine Nachbemerkung des Autors (S. 591).
Auf „Niedere Männer in gelben Mänteln“ beruht die Verfilmung ATLANTIS. 1960 lernt der elfjährige Bobby Garfield in seinem Heimatort, der Kleinstadt Harwich, Ted Brautigan kennen und stellt ziemlich schnell fest, dass der auf der Flucht ist – eben vor jenen „niederen Männern“. Brautigan scheint als „Zerbrecher“ aus der Welt des „Dunklen Turms“ (siehe Kapitel 18) vor den „Regulatoren“ geflohen zu sein. Bobby erfährt, dass er die Gedanken mancher Menschen lesen kann, die er berührt. Seine Mutter verrät Brautigan, und als Bobby ihn warnen will, wird er gemeinsam mit dem alten Mann von den „niederen Männern“ gestellt, schrecklichen Monstern unter einer nur verschwommen menschlichen Fassade. Bobby muss eine Entscheidung treffen: Begleitet er Brautigan (heldenhaft) in die Welt der „Balken“, oder kehrt er (feige) zu seiner Mutter zurück?
Der Entwicklungsroman beschreibt in erster Linie Bobbys Verlust der Kindheit, für die die „niederen Männer“ nur der äußerliche Ausdruck sind. Genauso wichtig sind die Auseinandersetzung mit seiner Mutter, mit der ihn eine Art Hassliebe verbindet, die Suche nach seinem verstorbenen Vater und das Erwachen der ersten Liebe zu seiner Freundin Carol Gerber. Hinzu kommen weitere für Kings Werk typische Ingredienzien wie Freundschaften (etwa mit John Sullivan) und Auseinandersetzungen mit den örtlichen Rüpeln (z.B. Harry Doolin, Richie O´Meara und Willie Shearman, die die elfjährige Carol ganz bös zusammenschlagen), die King zu einer stellenweise anrührenden Melange über das Älterwerden verschmilzt. („Es war der Kuss, an dem alle anderen in seinem Leben gemessen und für nicht gut genug befunden werden würden.“ S. 92) Doch die Begegnung mit den „niederen Männern“ hat Bobby aus der Bahn geworfen; er schmeißt die Schule, kommt in Konflikt mit dem Gesetz.
„Wir haben alles so fürchterlich vermasselt, du und ich“, sagt seine Mutter am Ende des Romans zu ihm. „Was sollen wir nur tun?“
Erst in diesem Augenblick scheint Bobby endgültig erwachsen geworden zu sein: „Unser Bestes“, antwortet er. „Wir werden unser Bestes tun.“
Die Novelle enthält zwar zahlreiche Anspielungen auf den Dunklen Turm, ist aber auch ohne Vorkenntnisse lesbar.
Protagonist des zweiten Textes in Romanlänge, „Herzen in Atlantis“, ist Peter Riley, der 1966 das Studium an der University of Maine aufnimmt. Er verliebt sich dort in seine Kommilitonin Carol Gerber – und wird süchtig nach dem Kartenspiel „Hearts“. Praktisch das gesamte Wohnheim verfällt ihm, zahlreiche Studenten versäumen ihre Vorlesungen, fallen bei den Prüfungen durch, verlieren ihre Stipendien, müssen die Universität verlassen, darunter auch Ronnie Malenfant, Großmaul und König der Karten.
Es ist eine Zeit des Umbruchs. Allmählich formiert sich in der Studentenschaft der Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Carol wird zur Aktivistin; sie schläft zwar mit dem eher unpolitischen Peter, der völlig dem Spiel verfallen ist, doch ihre Beziehung hat keine Chance. Sie kehrt nach Hause zurück, und erst der fast tödliche Unfall – oder Selbstmordversuch – eines behinderten Kommilitonen öffnet Peter die Augen. Er ist einer der wenigen, der die Prüfungen besteht und an der Uni bleiben kann.
Reflektiert King im ersten Teil des Episodenromans den Verlust
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