Wer hat Angst vor Jasper Jones?
eigenes Bein windet, und ich bekomme Panik. Was hat er getan? Ich schaue Eliza an. Dann wieder aufs Wasser. Verzweifelt reiße ich mir das T-Shirt vom Leib, schüttele die Schuhe ab und werfe meine Brille fort. Der Boden fühlt sich kühl an unter meinen Füßen, ich springe ins Dunkle und folge Jasper. Ich trete und schlage um mich, kraule durch das schmutzigtrübe Wasser, doch es bringt nichts. Ich kann nichts sehen. Ich habe keine Luft mehr. Gerade als ich mich hinaufschlängeln will, boxt mir etwas, das ich nicht sehen kann, gegen das Kinn. Voller Angst schlage ich zurück. Es packt mich an den Armen und zieht mich mit hinauf. Als wir auftauchen, ringt Jasper würgend und keuchend nach Luft und drückt mich fest an sich. Wir umklammern uns und wühlen mit den Beinen das Wasser auf. Ich huste heiser und rau. Jasper packt mich an den Haaren und zieht meinen Kopf so heftig zu sich heran, dass ich denke, er will mich ertränken. Er beißt mir in die Schulter, und ich grabe die Fingernägel in seinen glatten Rücken. Und ich kenne ihn. Das ist das Traurigste von allem. Ich kenne ihn als den verlorenen Jungen, der alles verloren hat. Und so, wie ich mir immer im Klaren darüber gewesen bin, dass er für mich Randall McMurphy war und ich die verängstigte kleine Klette, die sich für eine Portion geheuchelte Kühnheit an ihn klammerte, weiß ich jetzt, dass auch er mich bei dieser Geschichte gebraucht hat. Nicht weil ich klug oder zuverlässig, loyal oder gut bin, sondern weil er einfach jemanden brauchte, um damit nicht allein zu sein. Er hat mich aufgesucht, er ist in jener Nacht an mein Fenster gekommen, weil er eine Scheißangst hatte und nicht wusste, was er tun sollte. Das ist alles. Vermutlich hat er meine Lampe brennen sehen und wurde davon angezogen wie eine Motte vom Licht. Er musste es teilen, musste etwas von der Last abgeben an jemanden, dem er glaubte vertrauen zu können. Er konnte es nicht allein ertragen, es nicht allein durchstehen. Er konnte Laura nicht allein versenken und Jack Lionel nicht allein gegenübertreten.
Aber wenn Jasper Jones genauso viel Angst hat wie alle anderen, frage ich mich, ob ich jemals ohne Furcht sein werde. Doch dann fällt mir Jeffrey Lu ein und unsere Diskussion über Batman und das, was Mark Twain dazu zu sagen hatte. Vielleicht geht es gar nicht darum, furchtlos zu sein, sondern darum, wie gut wir diese Last tragen können. Das begreife ich jetzt. Das ist es, was Mut bedeutet. Bruce Wayne hat auch Angst, aber er kriegt es hin, weil er der verdammte Batman ist. Für den Rest von uns besteht der Trick darin, einen ehrlichen Umgang damit zu finden.
Aber wie? Wie findet man das Gleichgewicht zwischen dem Blues und dem roten Grausen? Ich sehe da nämlich eine altbekannte Zwickmühle: Entweder man erfährt etwas über gewisse Dinge und wird traurig und rastlos, oder man steckt den Kopf in den Sand und hat Angst. Aber vielleicht kommt genau da Eliza Wishart ins Spiel, um die Sache mit Liebe auszugleichen. Und siehe da: Da steht sie, hier und jetzt, am Rand des Tümpels.
Meine Beine sind müde, als wir auf die Bäume zuschwimmen. Ich habe das Gefühl, mein eigenes Gewicht an Wasser verschluckt zu haben. Wortlos hievt Jasper sich aus dem Tümpel, dann hält er mir die Hand hin. Ich ergreife sie, und wir stehen tropfend und schwer atmend da. Neben seinem muskulösen Körper sehe ich aus wie ein dürrer Besenstiel. Ich bücke mich und suche mit zusammengekniffenen Augen nach meiner Brille. Als ich mich aufrichte, stehen wir nebeneinander am Rand des Tümpels und schauen ins Wasser.
«Sie ist für immer dort unten», sagt Eliza.
Später liegen wir auf dem Rücken und schauen hinauf zu den Sternen. Jasper legt den Kopf auf eine hervorstehende Wurzel und zieht an einer Zigarette. Er hat in der Baumhöhle ein paar Streichhölzer gefunden. Sein Brustkorb hebt und senkt sich wie ein Uhrwerk. Eliza hat den Kopf auf meinen Bauch gelegt.
Es ist seltsam, dass wir drei hier zusammen sind. Es gibt so viel zu sagen, doch irgendwie scheint es nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden zu sein. Ich möchte Jasper fragen, wie das Gespräch mit seinem Vater verlaufen ist, ob Lionels Geschichte stimmt und was wirklich mit seiner Mutter geschehen ist. Doch es kommt mir nicht richtig vor, diese Fragen vor Eliza zu stellen. Andererseits möchte ich Eliza gern mit dem Daumen über die Wange fahren und ihr vielleicht die Haarsträhne aus den Augen streichen, die sich aus ihrer Spange gelöst hat, doch
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