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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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schreckliches Geheimnis auf dem Grund des tiefen Tümpels für sich behielte? Wenn wir es mitnähmen und den Mund hielten? Würde es irgendetwas ändern, wenn wir niemals ein Wort darüber verlauten ließen? Das Rätsel würde sich zu einem Haufen Lügen auswachsen, die sich ohnehin irgendwann in Wahrheit verwandeln werden. Niemand würde je durch das Wissen belastet.
    Was hätte mein Vater getan? Oder Mark Twain? Oder Atticus Finch? Höchstwahrscheinlich wären sie erst gar nicht in diesen Schlamassel hineingeraten. Aber ich bin nicht sie. Ich bin ein Idiot, ein Kind. Und ich habe alles falsch gemacht.
    Ich muss eine Weile eingenickt sein, denn ich schrecke auf, als ich Schritte höre. Eliza liegt schwer auf meinem Arm. Sie rührt sich nicht. Ich dagegen erstarre, als ein Schatten auf uns fällt.
    «Jasper?», flüstere ich.
    «
Charlie?
Was macht
sie
denn hier? Was soll das? Was hast du gesagt?»
    Eliza schreckt hoch. Sie packt mich am Arm, fährt zurück und tritt mit den Füßen. Irgendetwas fällt scheppernd vom Regal. Eine Laterne. Jasper hebt die Hand und bittet sie, sich zu beruhigen. Ich fühle mich ertappt. Jasper sieht feindselig aus.
    Ich krieche aus der Baumhöhle.
    «Du hast dein Versprechen gebrochen», sagt Jasper über mir trocken.
    Ich will gerade den Mund aufmachen, als Eliza herauskommt und mich unterbricht: «Nein, das hat er nicht. Ich habe ihn hergebracht.»
    «
Du?
Schwachsinn. Wie denn?»
    «Sie weiß etwas, Jasper», sage ich.
    «
Etwas?
Was hast du ihr erzählt, Charlie?» Er schiebt den Unterkiefer vor.
    «Nicht von mir», sage ich mit der Hand auf dem Herzen. «Sie weiß, was passiert ist, Jasper. Sie
weiß es

    «So, und du willst ihr nichts erzählt haben?» Gereizt schaut er Eliza an.
    «Nein, das war nicht nötig.»
    Ein wenig unsicherer geworden, tritt Jasper einen Schritt zurück, ohne Eliza dabei aus den Augen zu lassen. «Was meinst du damit? Was soll das heißen? Warum ist sie hier, Charlie? Du hättest sie nicht herbringen dürfen.»
    «Du hörst uns nicht zu», sagt Eliza. «Er hat mich nicht hergebracht. Ich kenne den Weg. Ich war schon öfter hier. Ich bin dir nachgegangen.»
    «
Mir
nachgegangen? Wann?» Misstrauisch schaut Jasper von ihr zu mir. Mein Herzschlag hat wieder eingesetzt und hämmert jetzt auf Hochtouren. Gleich kommt wieder alles auf den Tisch. Ich habe Angst vor Jaspers Reaktion. Eliza greift in ihre kleine Rocktasche und streckt dann den Arm aus. Ausdruckslos sagt sie Jasper, dass es ihr leidtue. Sie habe etwas genommen, was nicht ihr gehöre. Es sei für ihn bestimmt.
    Jasper wiegt sich hin und her wie ein Boxer. Er schaut auf das gefaltete Viereck, nimmt es aber nicht.
    «Was ist das?»
    «Ein Brief. Von Laura.»
    Er reckt das Kinn und verschränkt die Arme.
    «Was steht drin? Ich kann das nicht lesen. Ist mir zu dunkel.»
    Stumm schaue ich Eliza an. Sie scheint mit Abstand die Stärkste von uns zu sein. Ohne Jasper aus den Augen zu lassen, holt sie Luft. Sie faltet das Blatt nicht auf und erzählt Jasper alles, was sie mir erzählt hat. Es ist schlimmer, wenn man weiß, was kommen wird, wenn man weiß, wie es ausgeht.
    Eliza macht keinen Hehl aus ihrer Verbitterung. Sie hält nichts zurück. Trotz allem, was ich zu Jaspers Verteidigung gesagt habe, ist sie offensichtlich immer noch wütend auf ihn. Sie lässt alles heraus, auch dass Laura sich verletzt und hintergangen gefühlt hat. Jasper steht da und nimmt es stumm und regungslos hin.
    Er zeigt keine Reaktion, zuckt nicht mit der Wimper, bis Eliza von jenem schrecklichen Augenblick erzählt, als Laura nach hinten kippt und fällt. In diesem Moment kommt Bewegung in ihn. Er weicht zurück. Seine sonst so breiten Schultern sacken herab und krümmen sich. Er schlägt sich die Hand vor Mund und Nase, als habe er ein Niesen abgefangen, und taumelt ächzend und stöhnend rückwärts, ohne den Blick von Eliza zu nehmen. Ich beobachte ihn, wie man es bei einem in die Enge getriebenen Tier tun würde, und ducke mich unwillkürlich. Dann rastet er aus. Er stürmt los, und ich zucke zusammen, als er an uns vorbeirast und sich mit einem lauten Klatschen in den Tümpel wirft und verschwindet und nichts als ein paar Wellen zurücklässt.
    Eliza und ich rühren uns nicht vom Fleck. Wir sehen zu, wie sich die Oberfläche beruhigt. Er taucht nicht wieder auf. Was macht er nur? Wie tief geht er hinunter? Er kommt nicht hoch, er kommt nicht hoch. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass er sich das Seil um sein

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