Wer hat Angst vor Jasper Jones?
schaukeln sich solche Ereignisse hoch, weil einfach jeder jeden kennt und weil es hier sonst so ruhig zugeht.»
Ich nicke.
«Kennst du Laura gut?», fragt er.
«Nein, nicht gut. Aber ich kenne ihre Schwester. Eliza.»
«Richtig. Die kenne ich nicht. Aber Laura unterrichte ich schon seit zwei Jahren. Ein stilles Mädchen. Sehr klug. Sehr eigenständig. Aber – das habe ich den Leuten heute auch schon gesagt – sie hat etwas Bekümmertes und Unstetes an sich. Als würde sie einen auf Abstand halten. Daher kenne ich sie weniger gut als einige andere meiner Schüler. Aber ganz allein von hier fortzugehen klingt durchaus wie etwas, das sie versuchen könnte.»
«Wirklich?»
«Das vermute ich jedenfalls, Charlie. Ich bin mir nicht sicher, wie es in ihrer Familie aussieht, und will nicht so tun, als wüsste ich, was unter ihrem Dach geschieht. Es wäre nicht fair von mir, darüber zu spekulieren,
warum
Laura möglicherweise auf und davon laufen wollte, aber ich habe das Gefühl, dass sie durchaus dazu in der Lage wäre. Fortzugehen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Wahrscheinlich werden sie sie irgendwo in der Nähe auflesen, oder sie meldet sich, wenn ihr das Geld ausgeht.»
«Glaubst du?», frage ich.
Er kratzt sich am Kinn und streicht sich über die Haare. «Ja, das halte ich für das Wahrscheinlichste.»
«Bist du der Einzige, der so denkt?»
«Alle hoffen, dass es so ausgeht, Charlie; alle wollen sie wieder sicher zu Hause wissen. Trotzdem muss man mit allem rechnen.»
«Auch mit Entführung oder Mord?», platze ich heraus und erstarre gleich darauf, als hätte man mich auf frischer Tat ertappt. Als hielte ich Laura unter den Armen gepackt und würde geradewegs in einen Scheinwerfer starren. Entsetzt halte ich die Luft an.
Mein Vater seufzt und neigt den Kopf. Seine Stimme ist sanft.
«Das ist eine Möglichkeit, nehme ich an. Aber sie ist sehr, sehr unwahrscheinlich.»
«Wirklich? Warum wollt ihr dann, dass ich im Haus bleibe? Warum spielt dann niemand draußen auf der Straße?»
Er klappt den Mund auf und zu. Jetzt habe ich ihn.
«Es ist unwahrscheinlich, habe ich gesagt, aber nicht unmöglich. Sieh mal …» Er hält inne und legt sich die Worte sorgfältig zurecht. «Wenn so etwas geschieht, wenn die Leute nicht richtig verstehen, was passiert ist, gehen sie vom Schlimmsten aus, lange bevor es eigentlich notwendig ist. Es ist ein bisschen wie bei Leuten, die sich im Dunkeln fürchten. Oft ist es nicht die Dunkelheit, vor der sie Angst haben, sondern die Tatsache, dass sie nicht wissen, was sich darin befindet. Und weil sie nichts sehen können und unsicher sind, vermuten sie, dass dort Schlimmeres vor sich geht, als es normalerweise der Fall ist. Verstehst du das?»
«Ich glaube schon.»
«Ich will dir damit nur vor Augen führen, wie schnell die Vernunft beiseitegeschoben werden kann, sobald sich Panik und Furcht einschleichen. Vor allem in einer Kleinstadt wie dieser, wo die Leute herumspekulieren, als ob sie Spione wären. Also mach dir im Augenblick nicht zu viele Gedanken um Laura. Sie wird wiederauftauchen, mein Freund.»
Ich schaue auf meine schmutzigen Füße. Dass Laura wiederauftaucht, ist meine größte Sorge.
Ich spüre die Wahrheit in mir brennen und die Kälte meiner Lüge und zucke unwillkürlich die Achseln. Die unsichtbaren Ameisen krabbeln wieder über meinen Körper. Ich brauche ein Bad. Ich muss mich in ein Tuch aus brüllend heißem Wasser wickeln. Ich will mir die Haut vom Leib kratzen, mir den ganzen Dreck wegschrubben.
Anscheinend wirke ich ungeduldig, denn Dad tätschelt mir den Arm und lotst mich ins Haus.
«Denk daran», sagt er. «Fürs Erste kein Abendessen, und du trägst es mit Fassung, ja? Und sag ihr, dass es dir leidtut. Du wirst sehen, wie viel leichter das Leben sein kann, wenn man ein kleines bisschen nachgibt.»
Wir gehen hinein, seine Hand liegt auf meinem nackten Rücken.
Nachdem sich wenig später die Haustür hinter meiner Mutter und ihrer Freundin Beverly geschlossen hat, die vorbeigekommen ist, um sie zum Bridge abzuholen, überwacht mein Vater die Zubereitung eines Cornedbeef-Sandwiches.
«Sieh zu, dass du alles so lässt, wie du es vorgefunden hast», warnt er mich. «Und schneide nicht zu viel Brot ab. Sonst kommt sie dir auf die Schliche, und ich bin der Nächste, der ein Loch graben muss, für deinen und meinen Leichnam.»
«Das ist eine ernste Angelegenheit», sage ich und schüttle langsam und theatralisch den Kopf. Seit ich gebadet
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