Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Der Ausdruck «Psychopathie» kommt in offiziellen psychiatrischen Diagnosesystemen nicht vor, hat sich aber trotzdem eingebürgert. Der kanadische Kriminalpsychologe Robert D. Hare entwickelte eine «Psychopathie-Checkliste», deren Symptome sich weitgehend mit der heutigen Definition der antisozialen Persönlichkeit decken. [18] Da der Begriff im Volksmund manchmal inflationär und abwertend gebraucht wird, ist er in Deutschland in den Hintergrund getreten.
Im feindlichen Gelände
Zu guter Letzt gibt es noch die «paranoide Persönlichkeitsstörung». Die davon Betroffenen sind mit ihrer gesamten Umwelt über Kreuz und hassen im Grunde alle anderen Menschen. Sie sind leicht zu kränken und misstrauisch und wittern überall Verschwörungen und Gerede hinter ihrem Rücken. Neutrales oder freundliches Verhalten anderer Personen fassen sie als ablehnend auf, deuten es als verächtliche Reaktion. Sie fühlen sich wie ein Fallschirmspringer, der als Einziger im feindlichen Gelände gelandet ist. Oft leben sie als Einzelgänger und liegen mit ihren Nachbarn im Dauerstreit um Maschendrahtzäune und lärmende Kinder. Selbstgerechtigkeit, mangelnde Selbstkritik, Überheblichkeit und manchmal eine Neigung zu fanatischen, einseitigen politischen oder religiösen Ansichten charakterisieren ihr Auftreten. Während antisoziale Menschen in der Lage sind, wenigstens ein paar Freundschaften mit Gleichgesinnten zu pflegen, haben die Paranoiden nur noch einen Menschen, dem sie vertrauen, nämlich sich selbst. Erinnert ihre Paranoia manchmal an den Verfolgungswahn von Schizophrenen, haben sie aber nicht die übrigen schweren Symptome einer Schizophrenie.
Auch die «querulatorische Persönlichkeit» gehört zu diesem Spektrum. Dabei handelt es sich um Personen, deren Lebensinhalt darin besteht, wegen angeblichen Unrechts Beschwerdebriefe an Behörden zu schreiben oder Rechtsstreitigkeiten endlos weiterzuverfolgen. Der Gruppe der paranoiden Persönlichkeitsstörungen sind auch meist die Amokläufer zuzuordnen, die wegen vermeintlicher Ungerechtigkeit Dutzende von Menschen töten. Häufig haben sie über Jahre umfangreiche Waffensammlungen angelegt und frönen ihrer Schießneigung in Schützenvereinen, sind aber bis zu ihrer Tat nie polizeiauffällig geworden.
Natürlich treten die bisher beschriebenen Persönlichkeitsstörungen nicht völlig isoliert auf. Die abnormen Charakterzüge können sich in einer Person in beliebigen Zusammensetzungen mischen. Jemand kann also nebeneinander narzisstische, antisoziale und Borderline-Symptome aufweisen, mit einem Schuss paranoiden Misstrauens. Jeder Mensch ist ein Individuum, und man wird wohl kaum eine Person finden, die passgenau alle Kriterien einer bestimmten Persönlichkeitsstörung erfüllt, denn die von den psychiatrischen Diagnosesystemen vorgegebenen Einteilungen beruhen auf Statistiken und sind daher im Einzelfall nicht immer voll zutreffend.
Die Hände im Suppentopf
Der siebenjährige Jeffrey brachte einer Lehrerin, die er gern mochte, ein Gefäß mit eigenhändig gefangenen Kaulquappen mit. Nachdem er herausfand, dass die Lehrerin die Kaulquappen an seinen Freund Lee weiterverschenkt hatte, schlich er sich in die Garage von Lees Eltern und tötete alle Kaulquappen, indem er sie in Motoröl legte.
Mit fünfzehn Jahren lief Jeffrey mit Plastiktüten herum, in denen er die Überreste von toten Katzen, Eichhörnchen und Waschbären für seinen eigenen Tierfriedhof sammelte. Er suchte nach überfahrenen Tieren und zog das Fleisch von ihren verwesenden Körpern. Er spießte den Kopf eines toten Hundes auf einen Stock. «Im Keller roch es übel. Er löste das Fleisch mit Säure von den Knochen», berichtete später seine Stiefmutter. [19]
Sechzehn Jahre später.
Es ist zwei Uhr morgens in den Straßenschluchten eines trostlosen Viertels von Milwaukee, Wisconsin. Die siebzehnjährige Afroamerikanerin Nicole Childess ruft die Notrufnummer 911 an: [20]
Polizist: «Milwaukee Notfalldienst, Operator 71 .»
Childess: «Okay. Hi. Ich bin hier an der Ecke 25 . Straße und State. Hier ist dieser splitternackte junge Mann, er ist verprügelt worden, er ist verletzt und kann nicht stehen. Er braucht Hilfe.»
Der vierzehnjährige Laote Konerak Sinthasomphone lief blutend und verwirrt über die Straße, er stand offensichtlich unter Drogen oder Alkohol. Nicole Childess und ihre Kusine Sandra Smith befanden sich neben ihm, als zwei Sanitäter eine Decke um den unbekleideten
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