Wer hat Angst vorm bösen Mann?
keine Konsequenzen daraus ziehen können? Wenn uns die neue Theorie aber helfen würde, die Ursachen dissozialen Verhaltens zu ergründen, könnte vielleicht in der Zukunft ein Durchbruch in der Therapie dieser schweren Störungen gelingen.
Das Medikament Naltrexon, das die Endorphin-Rezeptoren blockiert, wurde bereits bei der Behandlung der Borderline-Störung erwähnt. Bisher gibt es noch keine Studien, die die Wirksamkeit von Naltrexon bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen beweisen. Wenn aber die EOS -Theorie stimmt, wäre es konsequent, dieses Mittel bei solchen Patienten auszuprobieren. Denn was schon bekannt ist: Bei Begleitsymptomen, die bei Antisozialen vorkommen, wie Alkohol- und Drogenabhängigkeit, sexueller Überstimulierung oder Kleptomanie, war Naltrexon wirksam. [63] , [64]
Man könnte aber auch einen völlig anderen Weg gehen. Würde es gelingen, ein Medikament zu entwickeln, das wie Morphin oder Heroin das EOS anstachelt, ohne jedoch süchtig zu machen, hätte man die Wunderpille, mit der man Borderline- und antisoziale Persönlichkeitsstörungen, ADHS , Suchterkrankungen und Essstörungen behandeln könnte – also alle Erkrankungen, für die die Psychiatrie heute noch keine ausreichenden Heilungsmöglichkeiten gefunden hat. Eine solche Arznei herzustellen klingt sehr schwierig, doch es scheint nicht unmöglich zu sein, da die Natur in Form des körpereigenen Endorphins ein solches Medikament bereits erschaffen hat. Die Hauptschwierigkeit liegt nicht darin, das Endorphin im Labor nachzubasteln, sondern es an seinen Wirkort zu bringen – wir können es ja nicht mit einer langen Spritze durch ein Loch, das wir ins Gehirn gebohrt haben, injizieren.
Forscher in den USA und Australien arbeiten an einem Trick: Ein neues Medikament namens Dextro-Naloxon, das dem Naltrexon sehr ähnlich ist, hebt bei Nagetieren die schmerzlindernde Wirkung von Morphin nicht auf, bannt aber dennoch dessen Suchtgefahr. [65] Würde das bei Menschen auch funktionieren, könnte man Dextro-Naloxon zusammen mit Morphin geben, um alle genannten Erkrankungen zu bessern, in dem das EOS aktiviert wird, ohne dass die Patienten vom Morphin abhängig werden. Und eines Tages gibt es vielleicht die Superpille, die beide Eigenschaften kombiniert.
Gleichzeitig würde dies jedoch eine große Gefahr bergen: Würde ein solches Medikament existieren, würden es fast alle Menschen nehmen wollen – die Kranken und die Gesunden. Niemand würde mehr versuchen, sein EOS durch Essen, Sex, Sport, befriedigende Arbeit oder künstlerische Tätigkeiten zu stimulieren. Die Menschen würden – wie im Roman
Schöne neue Welt
von Aldous Huxley – täglich ihre Pillen einwerfen, wären glücklich und hätten keine weiteren Ansprüche.
Noch fern in der Zukunft liegen Möglichkeiten, eine Störung des EOS durch Bluttests oder Gehirnscans zu diagnostizieren. Solche Methoden würden sicher eine Reihe von Chancen eröffnen: Man könnte Straftäter mit dem EOS -Mangel leichter erkennen und gegebenenfalls eine frühe Therapie einleiten. Aber es würde auch einige neue ethische Fragen aufwerfen: Ein Straffälliger, bei dem der entsprechende Laborwert einen bestimmten Grenzwert überschreitet, würde vielleicht für sein Leben gebrandmarkt sein – kein Richter würde ihn jemals freilassen, weil er Angst vor der extremen Rückfallgefahr hat.
Eine unselige Veranlagung
Wenn es nun stimmt, dass archaische, animalische Anteile unseres Gehirns daran schuld sind, wenn wir die Regeln brechen, können wir dann überhaupt für irgendwelche unsozialen Verhaltensweisen zur Verantwortung gezogen werden? Ist es wirklich nur die Hirnchemie, die unser Tun bestimmt, sodass unser freier Wille nur noch das schwächste Glied in der Kette ist?
In der Tat muss man davon ausgehen, dass es einem Gesunden unendlich leichter fällt, seine Triebwünsche im Zaum zu halten, als Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Während ein Gesunder sich leicht ein weiteres Glas Rotwein verkneifen kann, wenn er seinen Passat nüchtern nach Hause fahren will, hat es ein Alkoholiker in der gleichen Situation zehnmal schwerer, gegen seinen Suchtdruck anzugehen. Genauso hat ein antisozialer Mensch zehnmal mehr Willensanstrengung aufzuwenden als eine Normalperson, um in einem Streit nicht augenblicklich die Nase des Gegners zu brechen. Wir tun uns leicht damit, Menschen, die kleine Kinder missbrauchen, als Abschaum zu verurteilen. Man kann sich seine sexuelle
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