Wer hat Angst vorm bösen Mann?
als voll schuldfähig erkannt. Er saß seine Strafe ab, wurde wegen guter Führung frühzeitig entlassen und nahm eine Stelle in einer Autowerkstatt an. Nach ein paar Jahren lernte er Marianne K. kennen.
Während die Axtschläge immer lauter wurden, gelang es Marianne K., mit zitternden Händen das Toilettenfenster zu öffnen. Gerade als ihr tobender Mann ein Loch in die Tür geschlagen hatte, das groß genug war, um mit der Hand hindurchzufassen und die Tür zu öffnen, konnte sich die verängstigte Frau durch das winzige Fenster zwingen und auf den Hof fallen lassen. Obwohl ihr nach dem Sturz jeder einzelne Knochen wehtat, rannte sie atemlos zu einem Schuppen in der Nähe, in der vagen Hoffnung, sich dort in Sicherheit bringen zu können. Schreien nützt nichts, dachte Marianne K. mutlos, das nächste Haus ist zweihundert Meter entfernt.
Reinhold K. war die Treppe heruntergerast und hastete mit der Axt im Anschlag hinter ihr her. Die Tür des Schuppens hielt den Angriffen des höchst erregten Mannes nicht lange stand. Marianne K. hatte kaum Zeit, sich durch das Gerümpel des Lagers zum hinteren Fenster zu retten, um dort aus diesem wieder herauszuspringen. Konnte sie es wagen, überlegte sie fieberhaft, über das freie Feld zur nächsten Behausung zu laufen, oder würde er sie dort einholen?
Reinhold K. wirkte im ersten Gespräch völlig normal. Als ich seine Krankengeschichte erhob und die übliche Routinefrage nach möglichen Unfällen in der Vergangenheit stellte, erzählte er, dass er als Sechzehnjähriger einen Mopedunfall gehabt hätte, als Folge dessen er eine Woche im Koma gelegen habe. Merkwürdig: Das alte Gerichtsgutachten des Psychiaters zum Totschlag seiner Frau war zwar sehr umfangreich, aber dieser Unfall blieb unerwähnt. Daher interessierte mich, ob er von dem Sturz einen bleibenden Schaden zurückbehalten hatte. Ich ließ eine Computertomographie des Schädels durchführen. Als ich das Bild sah, bekam ich einen Schrecken: Dem Mann fehlte in der Stirnregion ein apfelgroßes Stück Gehirn. Ich fragte mich, wie dieser Patient damit überhaupt hatte leben, wie er seinem Job als Kfz-Mechaniker hatte nachgehen können. Immerhin wurde mir jetzt alles klar: Bei seinem Sturz in der Jugend hatte er eine große Hirnblutung erlitten. Da zu diesen Zeiten die Computertomographie noch nicht erfunden war, hatte man die Blutung nicht erkannt, sonst hätte man den Schädel geöffnet und das Blut abgesaugt. Normalerweise endet ein solch riesiges Hämatom in den meisten Fällen mit dem Tod.
Den Patienten hatte man damals nur ins Krankenhausbett gelegt und abgewartet. Da die Blutung aber einen Teil des Gehirns weggedrückt hatte, der nicht für das Überleben wichtig ist, hatte der junge Patient sie wie durch ein Wunder überlebt. Erstaunlicherweise hatte er auch keine «motorischen Ausfälle», also Lähmungen, oder einen deutlichen Verlust seiner geistigen Fähigkeiten, die die Ärzte sofort als Folge des Unfalls erkannt hätten – er wirkte völlig normal. Das Blut hatte allerdings einen riesigen Teil des Gehirns zerquetscht, den man zwar nicht für das Auswechseln eines Vergasers braucht, in dem aber so wichtige Instanzen wie Moral und Ethik sitzen. Offensichtlich fehlten ihm jene Gehirnteile, die dem Menschen sagen, dass man nicht ohne Weiteres seine Ehefrau erschlägt, weil sie die Zahnpastatube nicht richtig zugeschraubt hat. In dieser Region des Gehirns fällt es anscheinend kaum auf, dass so ein großes Stück funktionsunfähig war. Würden derart große Gehirngebiete an anderer Stelle defekt sein, hätte der Betroffene tatsächlich schwerste Ausfälle gehabt. Und in anderen Arealen, zum Beispiel im Hirnstamm, würde schon die Schädigung eines erbsengroßen Stücks den sicheren Tod bedeuten.
Der Landwirt Günther V. war gerade aus seinem Haus gekommen, als er sah, wie eine blutüberströmte Frau mit letzter Kraft auf seinen Hof zulief. Knapp hinter ihr erblickte er seinen Nachbarn, der eine Axt schwang. Als Reinhold K. den Bauern erkannte, ließ er von der Verfolgung ab, und Marianne K. konnte sich in das Bauernhaus retten. Günther V. rief die Polizei, und Reinhold K. wurde verhaftet.
Im darauffolgenden Prozess wegen versuchten Totschlags wurde Reinhold K. aufgrund seines Hirnschadens als schuldunfähig erklärt, dennoch ordnete man seine Unterbringung im Maßregelvollzug an, also in einem Krankenhaus für psychisch kranke Straftäter.
Dämonen im Kopf
Der Fall von
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