Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Fehleinschätzungen sind Gott sei Dank sehr selten, erregen aber, wenn sie geschehen, immer erhebliches Aufsehen. Sie können durch eine tragische Konstellation entstehen: Da ist ein Psychotherapeut, der Tag für Tag mit extrem schwierigen Patienten zu tun hat und der nach endlosen Therapiesitzungen eine Bestätigung seiner aufopferungsvollen Arbeit bekommen möchte. Ihm gegenüber sitzt ein manipulativer, mit allen Wassern gewaschener Patient, dessen Hauptziel die Erlangung der Freiheit ist – und die er vor allem dafür nutzen will, neue Sexualtaten zu begehen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind nämlich, ohne zu zögern, bereit, ihre unheimliche Fähigkeit, die Schwächen ihres Gegenübers zu erkennen, zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen. Und so ist es keine Seltenheit, wenn der Delinquent den Konflikt seines Therapeuten mit seinen untrüglichen Sensoren erkennt und sich bei ihm einschmeicheln will.
«Ja, Herr Doktor», sagt der pädophile Mörder zum Psychotherapeuten, «ich bin nicht mehr der, der ich früher war. Ich habe mich geändert. Dank Ihrer Therapie. Meine Phantasien richten sich nicht mehr auf Kinder. Diese abartigen Vorstellungen sind Geschichte. Ich war ein unreifer Junge, ich war wie ein Tier, ich habe meinen Opfern schreckliche Dinge angetan. Ich beschäftige mich jetzt in Gedanken mit erwachsenen Frauen, und ich werde mir eine Freundin suchen, ein Familie gründen, Kinder haben und ein ganz normales Leben führen. Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Ich weiß, dass Ihre Arbeit nicht immer mit Anerkennung belohnt wird, aber ich bin einer Ihrer Therapieerfolge!» Dabei spielen die antisozialen Täter immer auf denselben Klaviertasten: «Keiner hilft mir, nur Sie!» Einige dieser Menschen beteuern, dass sie geläutert seien, weil sie die Bibel gelesen und zu Gott gefunden hätten.
Das Gefährliche ist aber, dass antisoziale Menschen oft gut verbergen können, dass ihr fataler Trieb nach wie vor vorhanden ist. «Wer gut schauspielert, hat durchaus Chancen, wieder in Freiheit zu kommen. Nur eines weiß ich wesentlich genauer als andere: Wer einmal aus einer sexuellen Motivation heraus gemordet hat, der trägt diese ‹Fähigkeit› für immer in sich», gestand der vierfache Frauenmörder Frank Gust in einem Fernsehbeitrag. [109]
In Wirklichkeit hat sich nichts geändert; der Patient denkt Tag und Nacht darüber nach, wie er aus der «Anstalt» herauskommt, um einem kleinen Jungen aufzulauern. Der Therapeut ist nur Mittel zum Zweck. Das Lob soll ihn in Sicherheit wiegen, damit er bei der nächsten Anhörung ein Gutachten schreibt, das das Tor zur Freiheit öffnet. Und es ist auch kein Wunder, wenn ein Psychiater, der allzu optimistisch an die Wirksamkeit seiner Therapie glaubt, die Einlassungen des Patienten nicht als Schutzbehauptung entlarvt, sondern für bare Münze nimmt – denn sonst würde er ja seine eigene Tätigkeit in Frage stellen.
Nicht selten ist ein sonderbares Phänomen zu beobachten: Menschen, die forensische Patienten behandeln, solidarisieren sich mit ihnen mehr, als dies aus der Sicht der Opfer oder der trauernden Angehörigen eines ermordeten Kindes angemessen erscheinen kann. Verbringt man Tag für Tag acht Stunden mit den Patienten zusammen in einem Haus, sieht man zwar auch ihre menschlichen Seiten, aber man bekommt manchmal eine unangebrachte Distanz zu den schrecklichen Straftaten, die zu ihrer Einweisung geführt haben – ein Phänomen, das ich auch bei mir selbst beobachten konnte.
In einem grotesken Fall wurde die Verstellung der Sicht ganz besonders deutlich. Im Jahr 1999 erdrosselte in Erlangen der vierunddreißigjährige Andreas R. die zwölf Jahre alte Schülerin Mandy und missbrauchte ihre Leiche auf scheußlichste Weise. Vor Gericht verstieg sich der Gutachter in die Theorie, es habe sich um einen geplanten Doppelselbstmord gehandelt – das Kind habe seine Tötung mit dem Mörder abgesprochen. «Ungemein weit hergeholt», befand das Gericht und folgte dem Gutachter nicht.
In der Regel, das muss man hier betonen, sind Gutachter jedoch extrem vorsichtig, wenn sie solche Täter beurteilen müssen. In Zeitungen stehen nur die Einzelfälle, in denen ein Täter trotz positiver Prognosen rückfällig wurde, aber nicht die Hunderte von Fällen, in denen der Sachverständige mit seiner Vorhersage genau richtig lag.
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