Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Geiselnahme endete nach sechs Tagen, Personen wurden nicht verletzt. Enmark wollte den Tresorraum zunächst nicht verlassen, da sie befürchtete, die Polizei würde die Täter erschießen. Beim Herausgehen umklammerten die Gefangenen ihre Peiniger, um ihnen als Schutzschilde vor Polizeikugeln zu dienen.
Die Fraternisierung der Opfer mit den Verbrechern ging aber auch nach ihrer Freilassung weiter. Sie seien ihnen dankbar, dass sie ihr Leben gerettet hätten, behaupteten die Geiseln später. Sie baten um Gnade für die Täter, eröffneten ein Spendenkonto für deren Verteidigung und besuchten sie regelmäßig im Gefängnis. Zwar ist nicht richtig, dass – wie in der Presse behauptet – eine der Geiseln eine Liebesbeziehung mit einem der Geiselnehmer anfing, aber Kristin Enmark brach nach der Befreiung die Verlobung mit ihrem Freund. Überhaupt entwickelte sich eine herzliche Beziehung zwischen Tätern und Opfern. Olofsson wurde nicht bestraft, da er die Geiselnahme nicht inszeniert hatte, sondern nur auf Verlangen von Olsson in die Bank geholt wurde. Der kam nach zehn Jahren frei, und seine vorherigen Hafturlaube verbrachte er meist bei Kristin Enmark, die inzwischen einen anderen Mann geheiratet hatte. Olsson wiederum erhielt viele bewundernde Briefe von Frauen, die ihn anziehend fanden. Mit einer dieser Frauen verlobte er sich.
«Unser Verhalten kann man als Survival-Strategie bezeichnen», erklärt Kristin Enmark ihr Verhalten heute. «Wir hatten wahnsinnige Angst. Sie würden es wahrscheinlich ‹Identifikation mit dem Aggressor› nennen», erzählt sie weiter.
Ich frage die ehemalige Geisel, ob sie eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hat, ein Krankheitsbild, das manchmal nach solchen lebensbedrohlichen Ereignissen entsteht.
Ihre Antwort: «Auch wenn ich nach meiner Befreiung in einer Psychotherapie war – ich habe so etwas nicht bekommen.»
Es bleibt die Frage, wie sich solche paradoxen Verhaltensweisen erklären lassen, die Kristin Enmark und die anderen in der Bank Gefangenen entwickelten. In anderen Fällen, für die das Phänomen des Stockholm-Syndroms ebenso zutreffen könnte, zeigte sich, dass Menschen unter den Bedingungen einer brutalen Geiselnahme in eine Abhängigkeitsbeziehung zu ihrem Geiselnehmer gekommen sind, die wir mit unseren landläufigen Vorstellungen von Gut und Böse nicht verstehen können.
Orgien im Regenwald
Die fünfundzwanzigjährige Deutsche Nicola Fleuchaus hat im Jahr 1995 mit ihrem Freund Ralph eine Neckermann-Abenteuerreise gebucht. Es geht nach Santa Ana, Costa Rica, wo sie Flora und Fauna des Landes kennenlernen wollen.
Am Ende des ersten Tages erscheinen in der Regenwald-Lodge plötzlich fünf Männer mit automatischen Waffen, angeführt von Julio Vega, genannt Talamanca. Sie brüllen:
«¡Manos arriba!»
Anschließend verschleppen sie Nicola und Susanne Siegfried, die achtundvierzigjährige Schweizer Tourleiterin. [129] In den nächsten zehn Wochen schlagen sich die Entführer mit ihren Geiseln durch den Urwald des Nachbarlands Nicaragua. Es sind ehemalige Söldner, die auf der Seite der Contra-Rebellen gegen die Sandinisten gekämpft hatten, raubeinige, gefährliche Männer, die schon viele Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Einundsiebzig Tage vergehen mit strapaziösen Bootsfahrten auf Flüssen und Gewaltmärschen durch das Dickicht des nicaraguanischen Urwalds, ständig auf der Suche nach Orten, an denen sie sich vor der Polizei verstecken können. Die entführten Frauen werden von Moskitos, aggressiven Raubameisen, Mordwanzen, Zecken, Hakenwürmern, giftigen Raupen und bissigen Kakerlaken belästigt, von Spitzkrokodilen und Jaguaren bedroht. Sie leiden unter Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Allergien, Hautpilzinfektionen und Furunkeln. Am schlimmsten ist jedoch der Hunger, wenn der Nachschub an Nahrungsmitteln tagelang ausbleibt. Als die Thunfischdosen verbraucht sind, ernährt sich die Gruppe von Palmherzen, Zahnkarpfen, Süßwasserschildkrötensuppe oder Gasparfischen.
Als ich zufällig dem Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Athen, René Lammer, von meinem Buchprojekt
Wer hat Angst vorm bösen Mann?
erzähle, erinnert er sich. Vor Jahren war er in San José, in Costa Rica, tätig gewesen. In dieser Zeit lernte er ein Gemeindemitglied kennen, das früher eines der Entführungsopfer der Söldner war. René Lammer stellt den Kontakt her. Und so kam es, dass ich sechzehn Jahre nach der Dschungelentführung mit Susanne Siegfried, einer
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