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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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können, um die Fahndung zu erleichtern. Die später gefundenen Fotos, auf denen die Gesichter klar und deutlich zu sehen waren, straften sie Lügen.
     
    «Nach der Verhaftung war Niki richtig störrisch», räumt Susanne Siegfried im Telefonat ein. Aber sie hat dafür eine Erklärung: «Das lag daran, dass wir sehr müde waren und die Beamten uns zwei Tage lang verhören wollten, bevor wir unsere Familien sehen durften. Und sicher: Wir hatten behauptet, die Gesichter der Entführer nicht gesehen zu haben. Das war mit ihnen so verabredet gewesen. Wir hatten Angst, dass sie später uns oder unseren Familie Schaden zufügen konnten, weil sie ja wussten, wo wir wohnen. Ich denke, dass wir damals so etwas wie ein Stockholm-Syndrom hatten», sagt Susanne Siegfried mit sechzehn Jahren Abstand.
    Mit etwas weniger Abstand beschreibt sie in ihrem 2010 erschienenen Buch das Leben im Dschungel merkwürdig verklärt. Immer wieder betont sie, dass die Gangster sie mit Respekt behandelt hätten. «Sie nannten mich Doña Susi.» Die Frauen wurden verwöhnt, mit Champagner und «gebratenem Speck, appetitlich auf Heliconienblättern angerichtet». [133] Opfer und Kidnapper sangen und beteten zusammen. Einer der Entführer, Limón, machte Susanne einen Antrag, bekam aber einen Korb: «Schau mal, ich hab dich gerne, aber ich bin verheiratet.»
    Die Geiselnehmer stellten sich als Beschützer der Frauen dar. Die fünf Männer vermittelten ihnen, dass ihr gemeinsamer Feind die Polizei sei, die ohne Rücksicht auf sie Handgranaten ins Lager werfen würde. Außerdem würden sie sie vor einem geheimnisvollen Boss schützen, der aber niemals in Erscheinung trat und der «El Libio» («der Libyer») genannt wurde. Gelegentlich hieß es, Libio habe die Tötung der Geiseln angeordnet, aber die Entführer versicherten, sie würden ihnen niemals etwas antun. Einer der Männer deutete jedoch an, dass er unter Umständen gezwungen wäre, sie zu ermorden, würde ihm von Libio der Befehl dazu erteilt werden. Einmal behaupteten die Kidnapper, Libio werde kein Essen mehr schicken und sie alle verhungern lassen, weil Talamanca sich mit Nicola eingelassen und somit gegen die Regeln verstoßen habe. (Am Ende stellte sich heraus, dass es den ominösen Chef Libio gar nicht gab; die Entführer handelten auf eigene Faust.)
    Die Opfer hatten sogar das Gefühl, dass ihre Entführung einem höheren Sinn diente, wenn sich dadurch die Situation der Armen im Lande verbessern würde. In Wirklichkeit verprassten die Pseudo-Robin-Hoods am Ende das Lösegeld aber für Alkohol, Drogen, Frauen und Glücksspiele.
    Am Tag der Freilassung baten die Entführer die Geiseln um Verzeihung. «Aber wir hatten ihnen schon verziehen, aus Dankbarkeit, dass wir mit Respekt behandelt und nicht vergewaltigt oder gar getötet worden waren», so Susanne Siegfried in ihrem Buch. [134] Nachdem die Frauen in Freiheit waren, empfanden sie einen Moment lang ein Verlassenheitsgefühl, da ihnen die Männer monatelang ein Gefühl des Schutzes gegeben hatten.
    «Es waren miese Gangster, aber nach wie vor kann ich die Entführer nicht hassen», sagt Susanne Siegfried sechzehn Jahre später, obwohl die Männer ihr aus Selbstsucht nicht nur seelischen, sondern auch einen erheblichen materiellen Schaden zugefügt haben. «Im Mai 2011 wurde Talamanca freigelassen. Er rief mich an und wollte mich treffen. Wir haben uns verabredet, und ich wäre auch hingegangen, wenn mein Sohn nicht dagegen gewesen wäre – es hätte von anderen wieder falsch aufgefasst werden können. Auch mein verstorbener Mann Peter konnte sie nicht hassen. Vielleicht hatte er ähnlich wie wir ein Stockholm-Syndrom.»
    Die Kidnapper hätten ihn bei der Lösegeldübergabe erschießen können. Weil sie es nicht taten, hatte er das Gefühl, dass sie ihm sein Leben geschenkt und seine Frau wiedergegeben hatten.
     
    Was spielte sich im nicaraguanischen Dickicht wirklich ab? War es ein erweiterter Abenteuerurlaub, eine Art TV -Dschungelcamp oder ein «Bordell im Urwald», wie die Zeitungen schrieben? War es Sozialromantik, die die Frauen bewog, mit den Entführern gemeinsame Sache zu machen, um ein Lösegeld zu erpressen?
    Die Vorwürfe, die man den zwei entführten Frauen machte, waren sicherlich unberechtigt. Ihre unverständlichen Verhaltensweisen werden vielleicht klarer, wenn man das Stockholm-Syndrom zu ihrer Erklärung heranzieht: Im undurchdringlichen Dschungel ging es um Leben und Tod. Die Geiseln waren auf vielfältigste

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