Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Weise bedroht, durch die Maschinengewehre ihrer Entführer, durch mögliche Infektionskrankheiten, durch überall lauernde gefährliche Tiere und Insekten. Hinzu kam die Befürchtung, durch den imaginären Boss Libio eliminiert zu werden oder bei einer missglückten Befreiungsaktion der Polizei zu sterben. Doch am schlimmsten war die unmittelbare Erfahrung des Hungerns, weil immer wieder die Nahrungsmittel ausgingen. Das Essen war oft ein zentrales Thema: «Wir träumten von Spaghetti, Schnitzeln und knusprigem Brot», erinnert sich Susanne Siegfried.
Ist ein Mensch existenziell gefährdet, schaltet das Gehirn auf einen anderen Modus um. Während das Vernunftgehirn logischerweise denken müsste: «Diese Gangster haben mich in diese verdammte Situation gebracht, ich hasse sie dafür», sagt das auf Überlebenskampf umgepolte Gehirn: «Ohne sie verhungere ich, ich liebe sie dafür.» So wäre die Liebesgeschichte zwischen Nicola und Julio nicht Ausdruck einer merkwürdigen Verirrung, sondern die Folge einer Notfallreaktion des Gehirns angesichts einer tödlichen Bedrohung. Letztlich hat die Romanze vielleicht sogar das Leben beider Frauen gerettet. Denn eine solche Allianz kann auch beim Entführer menschliche Gefühle mobilisieren, die dazu führen, dass er Hemmungen hat, sein Opfer zu töten.
Siebenundzwanzig Schüsse
Es gibt eine Reihe von Fällen, die noch deutlicher demonstrieren, wie das Gehirn durch Einsetzen von Überlebensmechanismen zu einer Kehrtwendung in der Lage ist. Die neunzehnjährige Patty Hearst, Tochter des amerikanischen Multimillionärs und Zeitungstycoons Randolph A. Hearst, wurde 1974 von politischen Terroristen der «Symbionese Liberation Army» ( SLA ) entführt, vergewaltigt und siebenundfünfzig Tage im Dunkeln, in einem Schrank, gefangen gehalten. Zwei Monate später sah man auf einem Überwachungsfoto, wie sie sich mit einem halbautomatischen M 1 -Karabiner an einem Raubüberfall der linksradikalen Terroristengruppe beteiligte. Sie ballerte eine Serie von siebenundzwanzig Schüssen in einen Supermarkt, um ihren Komplizen die Flucht zu ermöglichen, als diese bei einem Sockendiebstahl erwischt wurden. In einem von der paramilitärischen Terrorgruppe veröffentlichten Tonband erklärte Patty Hearst, sie sei jetzt ein Mitglied der SLA . Ihre Eltern nannte sie «Lügner» und «Schweine», und ihren Verlobten Steven Weed, mit dem sie zusammengelebt hatte, einen «Clown».
Als sie verhaftet wurde, gab Patty, die vor ihrer Entführung nie ein Interesse für politische Fragen gezeigt hatte, ihren Namen als «Tanya» und ihren Beruf als «Stadtguerilla» an. Trotz ihrer späteren Einlassung, sie habe an einem Stockholm-Syndrom gelitten und sei zu dem Überfall gezwungen worden, wurde sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. Sie hatte sich geweigert, gegen die Geiselnehmer auszusagen. Die Erklärung der Anwälte, sie habe unter «Gehirnwäsche» gelitten, überzeugte die Jury nicht.
Nach zweiundzwanzig Monaten im Gefängnis kam sie durch einen Gnadenakt von US -Präsident Bill Clinton frei.
Hier haben wir einen besonders krassen Fall eines Stockholm-Syndroms: Die Solidarisierung mit den Geiseln war so ausgeprägt, dass Patricia Hearst sogar unschuldige Menschen angriff.
Ein wichtiges Symptom dieses Syndroms ist, dass die Hörigkeit zum Peiniger noch lange nach Beendigung einer Geiselnahme anhalten kann, wie auch die folgende Geschichte zeigt.
Bibel, Peitsche, Wasserbett und Pornographie
Die Eltern waren überglücklich. Sie hatten ihre Tochter, die vierundzwanzigjährige Colleen Stan, seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte sich nie gemeldet, und Vater und Mutter hatten sich große Sorgen gemacht. Colleen schien aber mit ihrem Leben sehr zufrieden zu sein. Sie war mit ihrem neuen Freund, dem siebenundzwanzigjährigen Mike, für einen Tag zu Besuch gekommen. Colleens Vater machte ein paar Bilder von den beiden, fröhlich lachten sie in die Kamera und umarmten sich wie zwei Verliebte. Nach der Stippvisite fuhren sie wieder weg, und Colleens Eltern hörten danach erneut jahrelang nichts mehr von ihr.
Sie ahnten nicht, dass ihre Tochter seit Jahren das Opfer eines perversen Sadisten war. [135] Nach dem Ausflug zu Colleens Eltern befand Cameron Hooker – das war der wirkliche Name von «Mike» –, er hätte Colleen damit zu viel Freiheit gegeben. In der Folge schloss er sie für drei Jahre in eine achtunddreißig Zentimeter hohe sargförmige Holzkiste ein, die er unter seinem
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