Wer Hat Angst Vorm Zweiten Mann
war nirgendwo zu sehen.
Mit einer Mischung aus Langeweile und Genervtheit sortierte ich den SMS-Speicher meines Handys. Dabei kam mir meine Namensschwester Phyllis aus der griechischen Mytholo gie in den Sinn. Die hatte sich aus Gram über das Fernbleiben ihres Liebhabers in einen blattlosen Mandelbaum verwandelt, und vielleicht ereilte mich ja jetzt das gleiche Schicksal.
Ich beschloss, Kay noch exakt fünf Minuten zu geben, bevor er für mich zur Persona non grata wurde. Es gab einfach Benimmregeln, die ein Mann befolgen musste, wenn er eine Chance bei mir haben wollte. Und es war mir auch egal, ob andere das altmodisch oder pedantisch fanden oder ob es sogar im Widerspruch zu den Berliner Coolness-Regeln stand.
Zu diesen Benimmregeln gehörte beispielsweise, dass ein Mann wartete, bis ich die Haustür aufgeschlossen hatte und im Eingang verschwunden war, nachdem er mich mit seinem Auto nach Hause gebracht hatte. Dazu gehörte auch, dass er mir in einem Café den besseren Platz anbietet und sich erst nach mir setzt. Und natürlich sollte es eine Selbstverständlich keit sein, dass ein Mann mich zur verabredeten Zeit nicht länger als maximal zehn Minuten warten lässt, ohne sich wenigstens telefonisch oder per SMS für seine Verspätung zu entschuldigen.
Zum Zeitvertreib war ich inzwischen dazu übergegangen, Bonbonpapiere aus meinen Manteltaschen in einen Mülleimer zu entsorgen. Dabei fiel mir ein zusammengefalteter Zettel in die Hände. Ich strich ihn glatt und las in fremder Handschrift: »Jesco«, darunter eine Handynummer, und dann noch »Meld dich mal«.
»Ach nee!«, entfuhr es mir laut, und ich verfluchte meine Unordnung, die dazu geführt hatte, dass ich den Zettel jetzt erst, mehrere Wochen nach dem Abendessen bei Claire und Klaus-Dieter gefunden hatte.
Meine Laune besserte sich schlagartig. Und da ich nun definitiv keine Lust mehr auf einen Spaziergang mit einem Wirtschaftsprüfer hatte, eilte ich mit Clooney zu meinem Auto, fuhr weg und war erleichtert darüber, dass dieser Kay nicht aufgetaucht war.
Drei Tage waren inzwischen vergangen, seit ich Jescos Zettel in meiner Jackentasche gefunden hatte.
»Wie kannst du dir so eine Chance entgehen lassen!«, sagte Cosima und schüttelte verständnislos den Kopf.
Da ihr Mann Matthias übers Wochenende an die Ostsee zum Segeln gefahren war, hatten wir es uns mit Sundownern auf ihrer Terrasse mit Blick auf die Gethsemanekirche gemütlich gemacht, während sich unsere insgesamt fünf Kinder im Wohnzimmer auf einem Matratzenlager fläzten und sich einen Disneyfilm ansahen.
Ich erklärte meiner Freundin, nach reiflicher Überlegung wäre ich doch zu dem Schluss gekommen, dass eine Lovestory zwischen Jesco und mir wenig sinnvoll wäre, weil er keine eigenen Kinder hatte. Und bei Männern ohne eigenen Nachwuchs erschien mir das Risiko zu groß, dass sie noch eigene Kinder kriegen wollten, wohingegen ich es ausschloss, noch ein weiteres Kind zu bekommen.
»Ich glaube, du bist einfach nur zu feige. Vielleicht ist Jesco unfruchtbar und sehnt sich nach einer bestehenden Familie. Und warum denkst überhaupt so weit, bevor du das erste Mal mit ihm geschlafen hast? Es ist Sommer, du bist in Berlin, und die Stadt ist voller Sex!«
Die Stimme meiner Freundin klang jetzt beinahe vorwurfsvoll. Cosima redete gern über Sex, was bestimmt daran lag, dass sie selbst schon seit Langem keinen mehr hatte. Gespräche über Sex gaben ihr das Gefühl, wenigstens nah am verpassten Geschehen dran zu sein. Zu ihrer Frustration wollte Matthias nämlich kaum noch mit ihr schlafen.
Als Eltern und als berufliches Team in der Arztpraxis arbeiteten Cosima und Matthias gut zusammen. Machtkämpfe und Streitereien, wie sie zwischen Mark und mir stattgefunden hatten, kannten sie kaum – was meiner Ansicht nach auch daran lag, dass Ärzte, zumindest während der ersten Jahre ihrer beruflichen Laufbahn, einer soliden, planbaren Karriere ohne variables Gehalt unterworfen sind. Und dass diese Kalkulierbarkeit Frauen und Männern gleichermaßen ermöglicht, eine berufliche Auszeit für die Kindererziehung einzulegen, ohne dass es ihrer weiteren Karriere schadet. Außerdem sind Ärzte als Humanwissenschaftler im Dienst der Menschheit unterwegs. Der Sinn und Zweck ihres Arbeitens ist damit unangreifbar, und automatisch genießt jeder Arzt einen Respektbonus für seine Arbeit – auch beim jeweiligen Partner.
Was aber nützte gegenseitiger Respekt, wenn die Erotik über die Jahre auf der
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