Wer Hat Angst Vorm Zweiten Mann
mich noch, ob wir auch wirklich allein waren. Sekunden später war mir selbst das egal. Ich schloss die Augen. Das Gefühl, Jesco in mir zu spüren, genoss ich dabei ebenso wie die Erleichterung darüber, dass es doch nicht aus war zwischen uns.
Am Freitag derselben Woche erreichte mich früh am Abend eine SMS: »Hast du lust auf ein bier? dex«.
Ein unbekümmerter Abend mit Dexter kam wie gerufen: Die Kinder waren schon bei Mark, und Jesco war auf dem Weg zum Flughafen, von wo aus er allein nach Venedig fliegen würde, und ich hatte für den Abend nichts vor.
»Gern, wo und wann?«
Eine Stunde später betrat ich die Bar Freddy’s nahe des Kottbusser Tor. In einem karminrot gestrichenen Raum mit hohen Stuckdecken standen Chippendale- oder mit Kord bezogene Sofas in grünen, goldenen oder beigen Farbtönen um wackelige, zerkratzte Holztische herum. Das Licht war gedimmt, und auf den Tischen brannten Kerzen. In der Mitte der Bar saß ein etwa zwanzigjähriger Bruno-Mars-Verschnitt auf einem Barhocker. Mit einem Hut auf dem Kopf und einer Gitarre auf dem Schoß sang er den Hit It Will Rain . An seinem Akzent hörte ich, dass er Amerikaner war, und auch viele andere Gäste in der Bar sprachen Englisch miteinander.
Darüber, dass insbesondere angelsächsische Ausländer den abgerockten Berliner Retro-Style cool fanden, hatte ich mich kürzlich erst mit Sven unterhalten, der sich das zunutze machte: Über eine Zwangsversteigerung hatte er eine kleine, heruntergekommene Wohnung in Kreuzberg mit dem Ziel gekauft, sie möbliert zu vermieten. Bewusst ließ er nur die marode Elektrik und das Bad erneuern. Die abgewetzten Holzdielen hingegen rührte er ebenso wenig an wie die Wände, an denen noch Tapeten aus den Sechzigerjahren klebten. Anschließend möblierte er die Wohnung mit Stücken vom Flohmarkt. Über das amerikanische Internetportal craigslist suchte er nach einem Mieter und wurde keine vierundzwanzig Stunden später fündig: Ein Fotograf aus N.Y. mietete die Wohnung an, und zwar für doppelt so viel Geld, wie ihn eine ähnlich große Wohnung in derselben Lage im top renovierten Zustand gekostet hätte.
Dexter saß in einem Nebenraum vor einem lodernden Kaminfeuer und freute sich, dass ich spontan gekommen war. Zum Look der Bar passend trug er ein in die Jahre gekommenes Jeanshemd mit hochgekrempelten Ärmeln, das Rodeo-, Pistolenduell- und Saloon-Assoziationen in mir weckte.
Die verrostete Federung des Sofas quietschte, als ich mich neben ihn setzte. Dexter schlug mir einen gemischten Vorspeisenteller für zwei Personen vor, dessen Zusammenstellung mich an eine Rundreise »Europe in one week« erinnerte: französischer Comté-Käse, spanische Chorizo-Salami, italienische Oliven und deutsches Vollkornbrot.
Ich war einverstanden und fragte: »Gibt’s eigentlich einen besonderen Grund, weswegen du mich treffen wolltest?«,
Dexter lehnte sich entspannt zurück.
»Ich möchte dich auf etwas aufmerksam machen.«
Ich vermutete, dass er damit auf mein letztes Projekt anspielte, das ich für die Fortbildung angefertigt hatte. Weil ich mich wegen Jesco kaum darauf hatte konzentrieren können, gehörte es nicht zu meinen Glanzleistungen.
»Was ich vor ein paar Tagen abgegeben habe, ist nicht so toll, ich weiß …«, setzte ich zu einer Erklärung an, doch Dexter unterbrach mich:
»Darum geht’s nicht.«
»Worauf möchtest du mich denn dann aufmerksam machen?«
»Auf mich.«
Dexter sah mir direkt in die Augen.
»Beat« hätte in einem amerikanischen Drehbuch an der Stelle gestanden. Ich war sprachlos und zugleich beeindruckt von Dexters direkter Art und seinem Selbstbewusstsein.
»Das ist dir gut gelungen«, stammelte ich verlegen.
Unbeirrt fuhr Dexter mit seiner Überrumpelungstaktik fort.
»Hast du einen festen Freund?«
Das Auftauchen der Kellnerin, die das Essen brachte, verschaffte mir eine Verschnaufpause. Dann erzählte ich Dexter von Jesco, und warum er an diesem Wochenende ohne mich nach Venedig gefahren war.
Dexter nahm meine Abfuhr gelassen. Gleichzeitig spürte ich, dass er mich als potenzielles love interest nicht abschrieb, sondern in die Wiedervorlage einsortierte.
Dass ich Lorenz zuliebe nicht nach Venedig gefahren war, beeindruckte ihn.
»Sina hätte darauf nicht verzichtet«, sagte er. »Letzte Woche hat sie sogar ihre Kinderfrau zum Elternabend unserer Tochter geschickt und mich über den Termin nicht informiert.«
Aus früheren Pausengesprächen wusste ich, dass die Kommunikation
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