Wer hat das Rind zur Sau gemacht?
was in diesen Chemikaliengemischen sonst noch alles enthalten war. Selbst in Seveso konnte der Verdacht nicht ausgeräumt werden, dort wären Chemiewaffen produziert worden. Der hochgiftige Inhalt der Fabrikanlage ist jedenfalls auf ungeklärte Weise komplett verschwunden. Im Blut der Anwohner fanden sich aber deutlich erhöhte TCDD -Werte. Inzwischen wurden auch die arbeitsmedizinischen Daten von Chemiewerken ausgewertet, in denen die Mitarbeiter erheblichen TCDD -Belastungen ausgesetzt waren.
Bei den Langzeitbeobachtungen fand man Unerwartetes. Denn das «Ultrakrebsgift» erhöhte die Krebsrate offenbar nur wenig: «Eine Zunahme von Tumoren ist epidemiologisch kaum zu beobachten», fasst beispielsweise der Lebensmitteltoxikologe Dieter Schrenk von der TU Kaiserslautern 2011 die Datenlage ebenso knapp wie präzise zusammen. Die gern zitierten Krebsfälle dioxinbelasteter Fabrikarbeiter hatten einen anderen Hintergrund: Denn nicht die Krebsrate war es, die zunahm, sondern ganz spezifische, seltene Krebsformen. Und die waren anderen, längst etablierten Kanzerogenen geschuldet, denen die Männer in erheblichem Umfang ausgesetzt waren. 4,28,35 Doch das haben die Forscher damals unterschlagen.
Wie hoch die Belastung der Menschen in den Feuerstürmen des Zweiten Weltkriegs war, lässt sich nur noch grob abschätzen. Zig Kilometer zogen die giftigen Rauchschwaden übers Land. An den Rückständen ist noch heute die Hauptwindrichtung während der Bombennächte erkennbar. Wie gefährdet waren wohl die Trümmerfrauen, die den rußverschmierten Schutt mit den bloßen Händen aufgeräumt haben, die Kinder, die tagtäglich darin gespielt haben? Auch in Gegenden, die vom Bombenkrieg verschont blieben, gibt es teilweise erhebliche Belastungen, beispielsweise an der Küste, wo einst mit Torf geheizt wurde. Beim Verbrennen bildet das salzhaltige Material Dioxine. Mit der Asche wurde dann der Gemüsegarten gedüngt. 18
TCDD ist natürlich alles andere als harmlos – es ist und bleibt für zahlreiche Tierarten ein potentes Gift. Ob es jedoch der giftigste jemals von Menschen hergestellte Stoff ist, darf stark bezweifelt werden. Nicht einmal bei schweren Vergiftungen sind Todesfälle bekannt geworden. 24 Vielmehr kommt es zu einer jahrelang andauernden, schweren Akne, der so genannten Chlorakne oder wie sie früher hieß: Pernakrankheit. Denn die Erfahrungen mit Dioxinvergiftungen am Arbeitsplatz reichen fast 100 Jahre zurück. 29 Aufschlussreich ist auch jene Vergiftung, die dem ukrainischen Politiker Wiktor Juschtschenko während des Wahlkampfes 2004 beigebracht wurde. In seinem Blut wurde 50000-mal mehr Dioxin nachgewiesen als bei der Normalbevölkerung. 34 Er ist im Gesicht davon schwer gezeichnet, hat den Anschlag aber überlebt.
Offenbar gehört der Mensch in puncto Dioxine zu den unempfindlicheren Säugetierarten. Das hat einen simplen Grund: Die Menschwerdung ist von der Nutzung des Feuers gekennzeichnet. Eine Spezies, die ihre Mahlzeiten seit Äonen über dem offenen Feuer erzeugt, die Tag für Tag dem Rauch der Feuerstelle erst in der Höhle oder später im Zelt ausgesetzt war, sollte nach einigen hunderttausend Jahren ein wenig robuster sein als Tiere, die den Flammen eher skeptisch gegenüberstehen. Eine evolutionäre Anpassung daran ist unvermeidlich. Deshalb sind viele Substanzen, die beim Erhitzen entstehen – wie auch das Acrylamid –, für uns Menschen weit weniger gefährlich als für die einschlägigen Labornager. Bleibt zu hoffen, dass sich eines schönen Tages auch die Toxikologen diese banale Einsicht zu eigen machen.
Ein Stück aus dem Tollhaus
Die Höchstmengenregelungen wiederum orientieren sich nicht an der «Giftigkeit» – wozu auch, es sind doch eh alles Phantasiezahlen. Da unsere Lebensmittel unterschiedlich stark mit Dioxinen belastet sind, passte man die Grenzwerte an die vermuteten Rückstandsgehalte an. Seither darf ein Fischstäbchen für Kinder weitaus mehr TCDD enthalten als ein Liter Öl im Schweinefutter. Die genaue Zahl lässt sich nicht angeben, da die Grenzwerte beim Fisch mal aufs Frischgewicht und mal auf den Fettgehalt umgerechnet werden. 5 Außerdem hängt es von der Fischart ab und wo und von wem sie gefangen wurde. Ein Schwede, der in der Ostsee fischt, durfte seine Mitbürger laut EU jahrelang einer deutlich höheren Belastung aussetzen als ein Deutscher. So wird den nationalen Besonderheiten, Ängsten und Wünschen im «Europa der Regionen» politisch Rechnung
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