Wer hat Tims Mutter entführt?
Arbeitszimmer begleiten.
Eine Schreibtischlampe mit
grünem Schirm verbreitete trauliches Licht. Fachzeitschriften stapelten sich.
Eine — die vorletzte Nummer — war aufgeklappt. In dem Keramikaschenbecher —
einem selbstgearbeiteten Geschenk von Schülern — qualmte eine grüngefleckte
Zigarre.
Dr. Freund fand die
Glocknersche Telefonnummer, seufzte und wählte.
Viel fehlte nicht mehr an
Mitternacht. Wirklich keine Zeit, um bei der Familie des Kriminalkommissars
Nachforschungen anzustellen.
Es läutete und läutete. Dr.
Freund wollte schon auflegen, als endlich abgehoben wurde.
„Ja? Bitte!“
Gabys Stimme klang, als habe
man das dazugehörige Mädchen aus tiefstem Schlaf gerissen, so daß die
Kornblumenaugen unter den dunklen Wimpern noch nicht ganz geöffnet waren. Nach
dem ,Bitte! 1 mußte eigentlich ein Gähnen folgen. Doch Gaby hielt
sich zurück.
„Hier Dr. Freund. Habe ich dich
aufgeweckt, Gaby? Natürlich. Dumme Frage von mir. Sind deine Eltern nicht da?“
„Mein Papi ist verreist“, Gaby
klang jetzt hellwach. „Und meine Mutti ist bei Frau Grantzkleidl eingeladen.
Ihrer Freundin. Guten Abend, Herr Direktor.“
„Fast schon ein guter Morgen,
Gaby.“ Er hörte ein kurzes Blaffen im Hintergrund. Das war wohl Gabys Hund.
„Weshalb ich so spät bei euch störe, Gaby — also, dein Freund Tim... Wir
vermissen ihn.“
Gaby schwieg fünf Sekunden.
„Ist er nicht in seiner Bude?“
Die Frage klang kein bißchen besorgt, was Dr. Freund sofort auffiel.
„Nein. Sein Bett ist unbenutzt.
Willi Sauerlich hat Heimurlaub übers Wochenende. Aber Tim hat sich nicht
abgemeldet. Und ich bin überzeugt, Gaby, daß du Bescheid weißt. Du als seine
Freundin.“
Diesmal brauchte sie zehn
Sekunden Schweigen, um zu überlegen.
„Herr Direktor, Tim ist nach
Hause gefahren.“
„Nach... Du meinst, zu seiner
Mutter?“
„Ja. Zu ihr. Gleich mittags.
Hals über Kopf. Von Willi weiß ich, daß er ganz kaputt war vor Angst. Weil
seine Mutter verschwunden ist. Tim hat’s erfahren von Frau Carstens Freundin.
Seit gestern Spätnachmittag ist seine Mutter spurlos verschwunden. Kein Unfall
oder so. Jedenfalls weiß man in den Krankenhäusern rein gar nichts. Die
Freundin hat Frau Carsten bei der Polizei als vermißt gemeldet. Was das für Tim
bedeutet, ist klar. Keine Macht der Welt hätte ihn zurückhalten können. Bitte,
verstehen Sie das, Herr Direktor. Es ist seine Mutter, deren Schicksal
vielleicht am seidenen Faden hängt. Sie kennen Tim. Für ihn zählt nur der
eigene Einsatz. Tim hat seine Mutter sehr lieb.“
Dr. Freund rieb sich das Kinn.
Die Miene drückte Betroffenheit aus.
„Verschwunden? Hoffentlich
nichts... Hm! Aber es ist Sache der Polizei, dem nachzugehen. Ich meine, wenn
Frau Carsten als vermißt gemeldet ist.“
„Sie wissen doch, wie findig
und wie energisch Tim ist. Selbst wenn
er nicht das erreicht, was die Polizei vermag, muß er doch dort sein, dabei sein
und alles versuchen. Es würde ihn umbringen, wenn er im Internat bleibt und
seine Mutter ihrem Schicksal überläßt.“
„Warum hat er mich nicht
verständigt?“
„Sicherlich war dazu keine Zeit
mehr, wenn er den nächsten Zug noch erreichen wollte. Auch bei mir und Karl hat
Tim sich nicht mehr gemeldet, und wir sind nun wirklich seine Freunde... eh...
damit meine ich nicht, daß Sie, Herr Direktor, weniger Verständnis haben.“
„Ich hoffe sehr“, sagte Dr.
Freund, „daß Frau Carsten nichts zugestoßen ist. Vielleicht hat sie sich
inzwischen wieder eingefunden, unbeschadet. Dann brauchte ich unbedingt
schriftliche... Beweise für den... Vorfall. Sonst muß ich Tim von der Schule
weisen.“
„Die Sache ist echt, Herr
Direktor. So echt, daß Karl, Klößchen und ich morgen früh mit dem 7.20-Uhr-Zug
zu Tim fahren. Er weiß das noch nicht. Aber er braucht uns als Verstärkung.
Ganz bestimmt. Ich sage Ihnen das, Herr Direktor, obwohl noch nicht feststeht,
ob wir Montag früh wieder zurück sind. Zum Unterricht, meine ich. Wir kriegen dann
nicht nur fürchterlichen Ärger mit Ihnen, sondern auch mit unseren Eltern.
Irrsinnig leid tut uns das. Aber wir nehmen es in Kauf. Denn als wahre Freunde
müssen wir zusammenhalten. In dieser Situation zählt nichts anderes.“
Dr. Freund überlegte eine Weile.
Er suchte sein Gehirn nach Ermahnungen ab, die nicht zu banal klingen sollten.
Dann verzichtete er darauf. Er wies auch nicht auf die allgemeine Schulpflicht
hin oder darauf, daß die Befreiung vom Unterricht — auch in
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