Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
scherzten, ignorierten die ängstlichen bis neugierigen Blicke der anderen Reisenden, die sich an den Enden des Bahnsteigs drängten, und alles in allem kam es Kai vor, als befänden sie sich auf einem Klassenausflug in die Sommerfrische. Nur eines fiel van Harm negativ auf: Einige von ihnen rauchten, obwohl es gleich mehrere Hinweisschilder gab, die eben jenes untersagten. Nun gut, aber wer war in seiner Jugend nicht auch schon einmal über die Stränge geschlagen.
Trotzdem hätte er es vorgezogen, wenn sie einen anderen Zug genommen hätten, doch dem war leider nicht so. Also beschloss van Harm spontan, den Erste-Klasse-Zuschlag zu zahlen, um nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen. Aber auch das half nichts, denn genauso wie sie das Rauchverbot ignoriert hatten, pfiffen sie auf das Zahlen des zusätzlichen Obolus, der das Sitzen in der ersten Klasse ja überhaupt erst erlaubte. Den Schaffner, der dies anmerkte, verscheuchten sie mit fürchterlichem Geschrei und drohenden Gesten und amüsierten sich, als er geflohen war, umso mehr über die eigene gespielte Aggressivität. Über das bisschen an schauspielerischem Talent, das es nur bedurfte, um jemandem Angst zu machen.
Nein, so nett waren sie dann doch auch wieder nicht, dachte van Harm, der mit einem Dutzend von ihnen im selben Großraumabteil festsaß und längst ahnte, wohin sie wollten, was ihr Ziel war. Denn schon beim Einsteigen hatte er gesehen, dass einige von ihnen an Latten und Besenstielen aufgerollte Transparente mit sich führten. Er hatte die kleinen Anstecker an ihren Baseballkappen und Jacken entdeckt, auf denen Hakenkreuze durchgestrichen waren oder in einen Abfalleimer geworfen oder mit einem Vorschlaghammer zertrümmert wurden. Auf denen rote Sterne zu sehen waren oder schwarze Sterne oder rot-schwarze Sterne oder schwarz-grüne Sterne. Nur rot-grüne Sterne konnte er nicht ausmachen.
Als sie merkten, dass der Schaffner sie in Ruhe lassen würde und auch keine Polizeiverstärkung an den nächsten Haltestellen zustieg, wurde der schwarze Block etwas ruhiger. Einige dösten, andere hörten mit Kopfhörern Musik oder tippten auf ihren Handys herum. Um nicht angesprochen zu werden, tat van Harm schon seit einer geraumen Weile so, als würde er schlafen, lauschte dabei aber einem Gespräch, das eines der wenigen Mädchen mit seiner Freundin in der Sitzreihe gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, führte.
Sie unterhielten sich in irgendeinem bayerischen Dialekt, den van Harm nicht genauer zuordnen konnte, über das Studium, über ihre Familien, wie sie sich die Zukunft vorstellten und dass sie eher nicht glaubten, für immer in Berlin zu bleiben, weil die Stadt zu groß sei, um auf Dauer in ihr zu bestehen. Zu hektisch, zu anstrengend, ohne richtige Perspektive, wollte man später mal in einem richtigen Beruf arbeiten und vielleicht noch eine Familie gründen, statt sein Leben lang nur improvisieren.
Die beiden Mädchen flüsterten jetzt fast. Van Harm nahm an, damit ihre abgebrühten Freunde nichts von der spießig scheinenden Vernunft ihrer Zukunftspläne mitbekommen sollten. Ihm dagegen gefiel die sachliche Betrachtungsweise der beiden. Sie ließ ihn für das spätere Leben seiner eigenen Kinder hoffen.
Van Harm öffnete die Augen und merkte, wie das Mädchen, das gerade sprach, ihn ansah, böse ansah, aber schon im nächsten Moment den grimmigen Blick in einem weichen Lächeln auflöste. Kai grinste zurück, dann schloss er die Augen und schlief diesmal wirklich ein.
»Kühe, Schweine, Ostdeutschland!«
Erst ein lautes, rhythmisches Geschrei weckte van Harm. Er fuhr hoch und merkte, dass der Zug hielt. Auf dem Schild vor dem Fenster konnte er den Namen der Kreisstadt lesen. Er schnappte sich seinen Rollkoffer, hechtete zum Ausstieg und schaffte in letzter Sekunde den Sprung aus dem Zug.
Da hörte er schon wieder das rhythmische Gebrüll, es stammte von den schwarz Gekleideten, die sich zu einem Block aus dichten Reihen formiert hatten und jetzt auf den Ausgang zumarschierten. Die Seiten des Blocks und die Front waren von großen Transparenten verdeckt, auf denen vermummte Gestalten zur Zerschlagung des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Konsenses aufriefen. Auch auf den Transparenten wimmelte es von Sternen und kaputten Hakenkreuzen, neu für van Harm dagegen waren die kämpferisch gereckten Fäuste in allerlei Ausführungen.
Und während der Block jetzt losstapfte, langsam, um nicht aus der kompakten Form zu geraten,
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