Wer ist Martha? (German Edition)
Vorzüge: die Sicht und den Schwung – all das, worauf man als wahrer Musikfreund nicht verzichten konnte.
»Da unten bekommen sie vom Schwung nichts mit«, flüsterten sie in Lewadskis Ohr. »... falsche Musikfreunde ... lauter Banausen. Nicht einmal zu husten wagen sie, sitzen wie angerostet da in ihren Lackschuhen, alle in den ersten Reihen, um gesehen zu werden, steif und hohl wie sie sind ... zum Erbarmen! Früher«, schwärmten die Schwestern, »flogen hier Schaumweinkorken durch die Gegend, man scherzte und lachte aus vollem Hals, man stattete der Nebenloge einen Besuch ab, eine nette Plauderei, ein Handkuss, ach, und jetzt? Jetzt sind wir ohne Schaumwein der Musik etwas nähergekommen ...«, besannen sie sich vor dem unschuldigen Kind Lewadski. »Nur die Eitelkeiten sind die alten geblieben«, fügten sie hinzu.
Lewadski bestaunte von oben all diese Menschen, die die Musik der Großtanten gepachtet hatten. Sie mussten, das ahnte Lewadski, durch eine schicksalhafte Fügung in den Genuss der Musik gekommen sein und die wahren Musikfreunde auf den billigen, wenn auch wunderbaren Orgelbalkon verdrängt haben. Der Schmerz um einen nicht zu verkraftenden Verlust hing den beiden Schwestern als Hufeisen im Gesicht, genau da, wo bei den Dahergelaufenen ein Grinsen zu sehen war. Dieser Schmerz wog so schwer, dass selbst die Strahlen der Musik, deretwegen alle im Goldenen Saal des Musikvereins versammelt waren, Lewadskis Großtanten nichtrichtig erwärmen konnten. Nicht zuletzt, weil sie während des Konzerts auf ihrem Orgelbalkon reglos weiterzukämpfen schienen – das Recht der Erstgeborenen musste durch die entsprechende Haltung zur Schau gestellt werden, als unmissverständlicher pädagogischer Gruß an alle da unten. Entspannen konnten sich die Tanten allein in den Pausen im Kreis der alten Elite.
»Endlich unter Gleichgesinnten!«, seufzten die Schwestern auf dem Weg zum Büfett, mit ihren abgewetzten Kleidersäumen den Staub auf den Marmorstufen wischend. In würdevoller Ungeduld eilten sie, Lewadski an der Hand, zu denen, die die Musik kannten. Diese anderen erkannten einander von weitem, deuteten eine Verbeugung oder einen Handkuss an, die Damen schüttelten einander die Hände in armlangen Handschuhen. Es blitzten Taschenuhren an goldenen Ketten, welke Nelken im Knopfloch der Herren verströmten einen kaum wahrnehmbaren Duft, so dicht waren die Parfümwolken des vermeintlich schwachen und nach Kräften aufgedonnerten Geschlechts. Man unterhielt sich, als wäre die Pause die letzte Gelegenheit, der Welt etwas Wesentliches zuzurufen. Man sprach über die Musik, schließlich führte sie die alte Elite zusammen, Veteranen eines sang- und klanglos verlorenen und sinnlosen Krieges. Ein Fächer fiel auf das Parkett, man hob ihn auf mit einem Lächeln und einem leichten Knarren im Kreuz, man sprach weiter über die Musik. Man trank auf die Musik.
Diese Truppe war Lewadski noch suspekter als ihre Gegner, die mit randvollen Sektgläsern in der Hand um die elitäre Insel einen Bogen machten, als würden sie sich für den Lauf der Geschichte schämen. Es fiel Lewadski schwer, die richtigen Musikfreunde von den falschen zu unterscheiden, denn beide Clans waren von ihrer Liebe zu dieser Kunst gleichermaßen überzeugt. Unbeleckt und neugierig wirkten die Dahergelaufenen, das machte sie in Lewadskis Augen etwas sympathischer als die Gleichgesinnten der Großtanten, die in ihrem Wissen um das Wesentliche so verbissen wirkten, dass die Musik selbst in ihrem Gefühlsleben keinen Platz zu haben schien. Dennoch entzündete sich an den zum Teil unverständlichen Gesprächen Lewadskis Leidenschaft für die Musik, im Büfettsaal des Musikvereins zwischen den Häppchen mit säuberlich abgezählten Kaviarkörnern und den klirrenden Tropfen der Kristalllüster, die, vom Atem der Menschen erhitzt, langsam um sich selbst kreisten. Golden war der Musikvereinssaal, fein golden perlte der Schaumwein in den Flötengläsern, die wie Wachskerzen einen Kreis um den Erzähler mit dem Goldzahn im Mund bildeten. Mit offenem Mund hörte ihm Lewadski zu. Wie goldene Krumen streute der alte Mann seine Worte in die Runde von Messdienern mit Wachskerzen in den Händen.
»Wie, meine Damen und Herren, lässt sich die Musik aus ihren Fesseln befreien? Aus welchen Fesseln?, fragen die Augen des Jünglings (Lewadski duckte sich) zu Recht. Mein Freund! Ja, aus welchen Fesseln denn? Die Antwort ist einfach – aus den Fesseln ihres Meisterwerkdaseins!
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