Wer ist Martha? (German Edition)
in seiner Heimat eingeschult, die nun zur Zweiten Polnischen Republik gehörte. DiesemTag zu Ehren wurde eine zähe Marktgans geschlachtet und aus ihren Knochen eine Brühe gekocht. Aus ihrer knorpeligen Gurgel fertigte Lewadski eine Pfeife. Jeden Morgen, auch samstags, ging Lewadski mit einer schweren Tasche in den Nachbarort zur Schule, die aus einem einzigen Raum bestand. Er musste Polnisch lernen, was ihm als Sohn eines Kleinrussen nicht schwerfiel.
»Freu dich«, heiterte ihn seine Mutter auf, »freu dich, mein Sohn, je mehr Sprachen du sprichst, umso menschlicher wirst du!« Lewadski hätte die Vogelsprache gereicht. Schon als Grundschüler hätte er schwören können, dass diese Sprache universal war, Unterschiede nur in der jeweiligen Vogelstimme bestanden und dass die Elster die Krähe sowie die Amsel die Ente verstehen konnte. »Was ist denn mit der Ente, die in einem anderen Land lebt als unserem?«, fragte Lewadskis Mutter herausfordernd.
»Wenn sie sich treffen, werden sie so sprechen, dass jeder jeden versteht«, meinte Lewadski, »Menschen sollten auch zu einer gemeinsamen Sprache finden. Schließlich sind wir auch Tiere.«
»Es war schon mal so«, sagte Lewadskis Mutter, »dein Vater und ich lebten in so einer Welt. Wir hatten verschiedenste Vogeljournale abonniert: Cabanis’ Journal für Ornithologie, den Zoologischen Garten, die Zeitschrift der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien, Nitzsches Illustrierte Jagdzeitung, Vogelschutzblätter und viele andere. Sie alle wurden uns mit der Post zugeschickt. Wir kauften beim Polen ein, gingen zum russischen Sattler, beim Juden im Ort ließ ich mein Hochzeitskleid nähen. Es hat gut funktioniert. Die Welt war durch den Handel verbunden, sie war eine Voliere mit den unterschiedlichsten Vögeln, die einander bestaunten und bereicherten. Wir konnten Briefe in aller HerrenLänder schicken, selbst an den Direktor des Kaukasischen Museums in Tiflis, der ein Vogelfreund war und dazu noch ein Preuße.«
»Was ist ein Preuße?«
»Ein Preuße ist auch ein Mensch!«, lachte Lewadskis Mutter.
So verging die Zeit. Während Lewadski die Schulbank in Lemberg drückte und eine Hose nach der anderen zerschliss, blieb seine Mutter in der Försterhütte, legte einen Gemüsegarten an und lernte Polnisch, um eine Handvoll Vogelzeitschriften zu abonnieren und sie in der Sprache jenes Landes zu lesen, dessen Bürgerin sie nun war.
Als Lewadski im vierten Studienjahr war und gerade an seiner Diplomarbeit über die Rechenschwäche der Rabenvögel saß, spürte seine Mutter, dass in der Welt etwas passierte. »Etwas stimmt nicht, mein Sohn, ich spüre, die Sintflut kommt!«, schrieb sie dem Studenten Lewadski an das Institut für Zoologie nach Lemberg.
Mein lieber Sohn,
es liegt mir fern, die kostbare Zeit eines zukünftigen Gelehrten zu vergeuden mit Beschwerden, dass du mir so selten schreibst. Der Grund, warum deine alte Mutter zur Feder greift, ist ein ganz anderer, und ich bitte dich, jetzt sofort und in diesem Moment deine Augen, Ohren und dein gutes Herzchen zu öffnen und den Inhalt dieses Briefes mit vollem Ernst zur Kenntnis zu nehmen.
Mein Sohn, etwas brodelt in dieser Welt. Unserem kleinen Ort, dem Wald und den Feldern haben die Jahresvögel wie Haubenlerche, Zaunkönig und Waldbaumläufer den Rücken gekehrt. Auch die Mehlschwalbe ist nicht mehr zu sehen. In ihren Nestern unter den Dachvorsprüngen nisten jetzt die Haussperlinge. Wann ich zum letzten Mal eine Mehlschwalbe vor einer Pfütze stehen s ah, die Schlamm als Baumaterial für ihr Nest in ihre Backen stopfte, weiß ich nicht mehr, so lange ist es her.
All diese Zeichen, mein Sohn, sind, wie du selbst weißt, besorgniserregend. Unser seliger Vater hätte gesagt: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Er hätte recht gehabt.
Ich träume seit Monaten fast jede Nacht denselben Traum. Ein Grünspecht zimmert eine Bruthöhle in unserem Geschirrschrank. Im Traum weiß ich, dies ist eine große Ehre und Freude, doch glücklich über den Gast bin ich nicht. Ich sorge mich um unser gutes Steingutservice, das den Vater, den Untergang der Monarchie sowie vier Jahre Krieg überlebt hat, selbst unsere dreijährige Abwesenheit. Daran denke ich und komme mir dabei recht schäbig vor – ein Grünspecht nistet unter unserem Dach, und ich denke an das klägliche Service und bin unfähig, den hohen Besuch zu genießen! Ab und zu höre ich das Lachen des Vogels aus dem Geschirrschrank, das wie
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