Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
Vom Netzwerk:
Zurück ins Leben durch das lebendige Gefühl des Interpreten. Aber, mein Herr, werden die reizenden Damen (er schaute zu Lewadskis Großtanten) einwenden, was ist mit der Werktreue und dem historisch richtigen Spiel? (Trinkpause, Abtasten der Runde mit schelmischem Blick.) Sind wir etwa akademische Klassizisten? Gehören wir zu diesem pedantischen Menschenschlag mit seinem blinden Glauben daran, das Werk werde schon für sich selbst sprechen, wenn der Interpret seine Gefühle drosselt und jene des Komponisten aus dem Äther empfängt? (Lewadskis Großtanten schüttelten entschieden den Kopf.) Nein,nein und nochmals nein! Was für ein absurder Gedanke! Wie, wenn nicht mit Hilfe seines liebenden Herzens, soll der Musiker den Komponisten verstehen? Nur durch das lebendige Jetzt, durch unsere Gegenwart kann sich die Idee eines Werkes verwirklichen. Aber (der Prophet hob den fleischigen Zeigefinger) wie soll man spielen, fragen gerade die Jüngeren unter uns (Blick auf den schrumpfenden Lewadski), um dem Komponisten gerecht zu werden? Vergessen wir, liebe Freunde, (versöhnendes Neigen des Kopfes) unser Misstrauen gegenüber der persönlichen Note. Ein respektvoller Virtuose wird sie niemals eitel missbrauchen. Wo kämen wir da hin, ja, wo kämen wir da hin? (Trinkpause, zerstreutes Wischen über den Schnurrbart.) Der Komponist ist tot! (Starrer Blick in die Runde.) Doch solange er lebte, wärmte er sich an diesem einzigen Gedanken: Seine Musik werde ihn überleben und noch von Generationen nach ihm gespielt werden. Persönliche Note hin oder her – die Musik hat den Komponisten überlebt. Meine Damen (Pause) und Herren, nur, ich wiederhole, nur im Einklang mit unserer Zeit ist die Musik lebendig und berührt am tiefsten. (Kleine Applauslawine mit verwirrtem Lewadski an der Spitze.) Und das rufe ich allen akademischen Klassizisten mit aller Entschiedenheit zu!«
    »Bravo!«, riefen die Großtanten. Nicht im Saal, sondern in den Pausen, wenn solche Reden geschwungen wurden, schienen sie wirklich zu leben.
    »Zu den Zeiten unserer Großväter hat man alles gespielt, wie man es empfand«, verkündete eine stark gepuderte Schönheit aus grauer Vorzeit. »Die Bearbeitung eines Virtuosen galt sogar als bedeutender als der Originaltext!« Lewadskis Großtanten nickten, nostalgisch in die Ferne schauend.
    »Und dann starben unsere Großväter, und unsere Väter standen plötzlich verloren da«, fuchtelte die Grazie mit den knochigen Armen. »Wie mit einem Fluch beladen, fing man an, historisch zu spielen – jede noch so absurde Laune des Komponisten wurde geduldet, selbst Stichfehler im Erstdruck wurden als genial gefeiert und hingenommen!«
    »Gott behüte«, raunten die Großtanten, und Lewadski war nahe dran, ein Kreuz zu schlagen. Das Kaviarhäppchen schmeckte gut, weil es wie eine Waldlichtung voller vergrößerter Borkenkäfereier aussah.
    »Perfektion wurde zur Besessenheit«, flüsterte die alte Dame mit niedergeschlagenem Blick. »Man misstraute dem Zufall, der eigenen Natur ...«
    »Und damit der Musik«, stöhnten die Großtanten, »so flüchtig und unwiederholbar wie sie ist! Ein Flugspinngewebe!«, und dann etwas weinerlich zu Lewadski, »dabei kann man die Musik nur dann aufhalten, wenn man sie fliegen lässt!«
    »Die Großväter konnten das noch«, seufzte die Gepuderte zur Stuckdecke des Büfettsaals, »dann wurden unsere Väter gezeugt.«
    »Ich erinnere mich«, erinnerte sich eine der Großtanten, »mein, unser Vater lobte einen Interpreten, indem er sein Spiel hart nannte!«
    »Köstlich!«, sagte ihre Schwester und kniff Lewadski in die dürre Backe, »nun ist alles anders!«
    An einem anderen Tisch wurde über die Haltung des Interpreten gegenüber der Autorität des Komponisten gesprochen. »Passiver Befehlsempfänger oder großherziger Diener des Komponisten – das ist die Frage!«
    »Freiwilliger Diener, keine Frage, freiwilliger Diener!«
    Die Damen schauten lächelnd ins Glas, als ob sie darin einen geistreichen Satz vermuteten. Die Herren sprachen ihn stattdessen aus und tranken bis auf den Grund. Man klopfte einander auf die gepolsterte Frackschulter, goldenglitzerten die aufgewirbelten Staubkörner im Kristalllüsterlicht.
    Ein Charmeur mit Backenbart und rotem Gesicht stellte, an einen Stehtisch gestützt, fest: »Nicht jeder Flügel und Pianist ist der Hammerklavier-Sonate, op. 106 gewachsen! (Fragendes Heben gezupfter Augenbrauen.) Denken wir nur an die bekannte Stelle vor dem Einsatz der

Weitere Kostenlose Bücher