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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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sich, warum die Mutter eines ihrer Hochzeitsleinentücher herausgeholt hatte. Niemals zuvor hatte sie etwas von ihrer Mitgift für den Alltagsgebrauch verwendet. In einer mächtigen Holztruhe verborgen, hatte sie die Schätze für eine ungewisse Zukunft aufbewahrt und alle paar Jahre auf der Wiese zum Bleichen ausgebreitet. Und nun?
    Lewadski starrte entsetzt auf den braunen Abdruck seiner Hände auf dem alten Leinen. »Macht nichts«, säuselte seine Mutter gut gelaunt, »dafür ist es doch da!« Lewadski lief es kalt über den Rücken.
    Während er den Zwiebelkuchen aß, fiel ihm ein kleiner Koffer auf, der neben dem Kleiderständer an seinen eigenen Koffer gelehnt stand. Lewadski hatte große Mühe, den Bissen Kuchen hinunterzuschlucken. »Was ist das?«, deutete er Richtung Kleiderbaum.
    »Unsere Koffer«, sagte Lewadskis Mutter, befeuchtete eine Fingerkuppe und sammelte zwei Krümel auf, die von Lewadskis Teller auf den Tisch gefallen waren.
    »Du bist wie der Grünspecht aus deinem Traum«, versuchte Lewadski zu scherzen. Beide lachten gequält.
    »Ja, ich träume schlecht in letzter Zeit, dafür aber aufregend«, meinte Lewadskis Mutter. »Es freut mich, dass du den Brief deiner alten Mutter ernst genommen hast. Warum eigentlich?« Lewadski zuckte mit den Schultern. In seinem Kopf tobten die Sätze durcheinander: Ich habe dich immer ernst genommen, Mutter. Die Vorstellung, dass du monatelang im Wald verwesen müsstest, würde mich beim Schreiben meiner Diplomarbeit stören. Das Verschwinden von Mehlschwalben ist ein bedenkliches Zeichen ...
    »Warum nicht?«, sagte Lewadski trocken. Der Zwiebelkuchen lag ihm wie ein Stein im Magen. Er wartete, ohne seine Mutter anzuschauen, dass sie zu reden beginnen würde.
    »Mein liebes Kind, dein Vater war ein wunderbarer Mensch. Wir lernten uns in den Wäldern kennen, in denen du geboren wurdest und aufgewachsen bist. Diese Wälder hat er, solange er lebte, nie verlassen. Denk nicht, dass es mir leichtfällt, sie zu verlassen. Ein paar Jahre vor deiner Geburt kam ich als Studentin aus Wien mit drei jungen Professoren zur ostgalizischen Vogelzählung hierher. Der alte Graf, für den dein Vater als Förster arbeitete, war ein großer Vogelnarr. Das weißt du ja. Sein Herrenhaus und seine Ländereien standen für Vogelfreunde in der Brutsaison immer offen – das war in Wien, Berlin, Paris und London bekannt. Selbst zwei Neffen des Zaren, Friede ihrer Asche, waren hier regelmäßig zu Besuch gewesen. Dein Vater holte uns mit einer Kutsche von der Bahnstation ab. Er lud unsere Koffer mit solch verächtlicher Miene ein, dass ich mir vor Lachen fast in die Hosen machte, die ich damals als eine der wenigen Frauen im Kaiserreich trug. Frage mich nicht, warum. Trotzdem verliebte sich dein Vater in mich. Und mein Herz gehörte deinem Vater restlos, als ein Vogel sich in die Zweige einer Birke vor unserem Fenster setzte. Es war eine gewöhnliche Amsel, wir waren ein Paar, ich trug keine Hosen mehr, sondern Kleider, aber in dem Moment war ich nackt, dein seliger Vater übrigens auch. Du brauchst dich jetzt nicht am Hals zu kratzen. Nun ja, als der Vogel in der Birke landete und seinen Reviergesang zum Besten gab, erstarrte dein Vater. Er blieb auf mir liegen und lauschte dem Vogel, ohne zu blinzeln. Er lauschte der Amsel, die er nicht sehen konnte. Er lauschte so konzentriert, dass er den Atem anhielt. Und als ich es merkte, war es um mich geschehen.«
    Lewadski hätte schwören können, dass er sich gerade in ein Stück Kohle verwandelt hatte. Für einige Sekunden. Dann war er nach einem gewissenhaften Räuspern wieder er selbst.
    »Als du mir sagtest, dass du Ornithologie in Lemberg studieren willst, brachtest du eine alte Witwe zum ersten Mal seit langer Zeit zum Lächeln«, setzte Lewadskis Mutter fort. »Ich lächelte mit dem Herzen, so wie damals, als dein Vater beim Lied einer gewöhnlichen Amsel den Atem angehalten hat. In diesem Herzenslächeln, mein Sohn, atmete ich zum ersten Mal seit seinem Tod auf. Erinnerst du dich, dass ich dich fragte, wie ernst du dein Studium in der Hauptstadt mit ihren verderblichen Reizen und Einflüssen nehmen würdest? Unsere finanzielle Situation erwähnte ich nicht, es wäre auch unnötig gewesen, du wusstest ohnehin, wie miserabel sie war. Du sagtest: Mutter, ich nehme die Sache sehr ernst. Erinnerst du dich? Da wurde mir klar, dass ich für dich wie ein Ackergaul bis zum letzten Blutstropfen bedenkenlos schuften werde. Ach, in allen Fällen

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