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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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glückglückglück klingt. Manchmal sehe ich die lange Spechtzunge, wie sie sich durch den Schlossspalt hin- und herbewegt. Sie ist klebrig und mit weißen Steingutkrümeln besetzt.
    Auch dieser Traum bedeutet nichts Gutes. Eine Sintflut ist im Anrollen. Das ist mir klar, und das soll auch dir klar sein. Mein Wunsch ist, dass du alles liegen lässt und sofort nach Hause kommst. Für den Rest wird deine alte Mutter sorgen. Wenn du dich entscheidest, mich für verrückt zu halten, und diesen Brief nicht ernst nimmst, werde ich, Gott sei mein Zeuge, dem Beispiel deines Vaters folgen.
    Lewadski las den Brief, legte ihn auf das Bett und kratzte sich mit beiden Händen am Hals. Eine seltsame Frau. Er nahm den Brief wieder zur Hand und las ihn erneut.
    Mein lieber Sohn,
    es liegt mir fern ...
    »Kruzitürken!«, verfluchte Lewadski die waffeldünne Pappwand, an der sich eine alte Fotografie und eine Zeichnung wie zwei rheumabefallene Holzfäller voreinander verneigten. Er stand auf und richtete sie gerade. Auf der Fotografie saß Lewadskis Vater ohne Bart und mit vollem Haar auf dem Bock einer Kutsche. Auf seinem Schoß schlief ein zotteliger Hund unbestimmbarer Rasse. An seinen rechten Arm lehnte Lewadskis Mutter ihren schönen Kopf. Die Zeichnung zeigte einen auf einem schlichten Holztisch sitzenden Kuckuck mit einem Ei im aufgerissenen Schnabel, um ihn herum eine verwunschene Rokoko-Kulisse mit wild bewachsener Gartenlaube, Schaukel und Gewitterwolken in der Ferne. Rechts unten stand das Jahr von Lewadskis Geburt neben der väterlichen Unterschrift Landschaft mit Kuckuck, nichts Besonderes, aber dafür von Herzen für mein Täubchen. Immer dein Täuberich .
    Lewadski richtete noch einmal die Bilder gerade und trat einen Schritt zurück. »Nein«, sagte er, nahm die Bilder von der Wand und legte sie in das aufgesperrte Maul seines Reisekoffers. Dazu packte er sein Sonntagshemd sowie die Mappe mit seiner Diplomarbeit über die Rechenschwäche der Rabenvögel.
    Als er schon im Wagen der dritten Klasse zwischen gackernden Säcken mit Hühnern und schlafenden Großmütterchen saß, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich für die bevorstehende Beringung der Eisvögel in den Karpaten anzumelden. »Was solls«, seufzte Lewadski, schloss die Augen und zerfloss, soweit es ihm die harte Holzlehne seines Sitzes erlaubte, in Erinnerung an die letzte Beringung dieses wunderschönen Vogels, an der er teilnehmen durfte. Er dachte an das aufgespannte hauchdünne Netz und daran, wie er das zitternde Tier zum ersten Mal berührte. In diesem Moment war der Vogel ein einziger Herzschlag. Lewadski lächelte imHalbschlummer. Nach der Beringung war der Vogel ganz zahm und saß nachdenklich eine Weile auf dem Handrücken. Monate später würde so ein Exemplar von einem ägyptischen Kollegen gefangen oder tot gefunden werden. Anhand der Ringnummer wusste man: Die Eisvögel aus den Karpaten flogen über die Türkei an den Brackwassersee Burullus im nördlichen Nildelta, um dort zu überwintern. Sie taten das, sie hatten es seit der letzten Eiszeit getan, und sie würden es tun, bis etwas dazwischenkam.
    Der Sack an Lewadskis linkem Bein begann zu krähen. Das ihm gegenüber sitzende Großmütterchen versetzte dem Sack, ohne die Augen zu öffnen, einen Tritt. Etwas ließ Lewadski denken, dass er die diesjährige Vogelberingung verpassen würde.
    Mit eingeschlafenen Beinen stieg Lewadski aus dem Zug. Auf dem menschenleeren Perron rauften sich zwei Rüden in einer Pfütze. Als Lewadski an ihnen vorüberging, bespritzten sie ihn mit Dreck und beschimpften ihn, wie er sich einbildete, mit unzüchtigen Worten.
    Die Dorfstraße war zu seinem großen Erstaunen asphaltiert. Vor dem Försterhaus fehlte ein Baum. Ob es ein Nuss-, ein Apfel- oder ein Pflaumenbaum gewesen war, daran konnte sich Lewadski nicht mehr erinnern, sosehr er sich auch anstrengte. In einem der Fenster sah er seine Mutter, in eine weiße Spitzengardine gehüllt, wie eine Braut, fast so wie er sie vor einem Jahr verlassen hatte. Das Haus schien seither geschrumpft und in die Erde gewachsen zu sein. Oder saß die Mutter etwa auf einem Schemel, um sich das Warten angenehmer zu gestalten?
    Im Haus roch es nach Zwiebelkuchen, Lewadskis Leibgericht. Seine Mutter hatte Krümel in einem Mundwinkel, dieim Moment, als sie ihn anlächelte, zu Boden rieselten. Pfeifend wusch sich Lewadski die Hände in einer Schüssel. An einem kunstvoll bestickten Handtuch trocknete er sich ab und wunderte

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