Wer ist Martha? (German Edition)
das? Schwer atmend erholte sich Lewadski vom Schreck, da ertönten schon die ersten Klänge der Symphonie Nr.9d-Moll, op125. Geschrieben in den Jahren, in denen Beethoven völlig ertaubt war. Einsam und allen Menschen entfremdet, dachte Lewadski und spürte, wie ein Eiszapfen in seinen Herzmuskel hineinwuchs. Seine letzte Symphonie ... Freude schöner Götterfunken la la la lalalala!
Irgendwo hatte Lewadski gelesen, es gäbe Hunderte von Beethovens Konversationsheften. Mit einem Bleistift und einem Heft ausgestattet, kam der Taube im Alltag zurecht. Mehr recht als schlecht. Dass das Bedürfnis, mit Menschen zu kommunizieren, bei Beethoven anscheinend nie nachgelassen hatte! Menschen sind Menschen, dachte Lewadski im Wasser rudernd, Musik ist wohl wirklich in unserem Inneren, aberdass man keine Vögel hören kann – das muss bitter sein. Lewadski schloss die Augen und hörte auf zu rudern. Der Wald der Geigen rückte durch die spaltbreit offen stehende Tür in das Bad vor, beschwörende Flöten kreisten um den Kristalllüster, einige Akkorde lang, und dann begann das Schicksal mit voller Gewalt zu trampeln. Und wieder das Säuseln der Geigenblätter im Flötenwind. Wenn ein Hausorchester zum Butlerservice gehört, dann habe ich wirklich keine Worte mehr, dachte Lewadski.
»Woher kommt denn die Musik?«, rief er an einer leisen Stelle zur Tür.
»Aus dem CD-Spieler!«, antwortete der Butler. Seine Stimme klang weich, fast rotkäppchenhaft im Geigenwald.
Nach dem beflügelnden Molto vivace bat Lewadski den Butler, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Der junge Mann schien es nicht zum ersten Mal zu machen. »Gibt es viele Gäste im Hotel, die Hilfe beim Baden benötigen?«, wollte Lewadski wissen.
»Es kommt manchmal vor, für die Extrawünsche der Gäste sind doch die Butler da, und außerdem habe ich einen Vater«, sagte Habib. »Hatte«, fügte er hinzu. »An einem helllichten Tag wurde er plötzlich sehr komisch und brach mitten im Raum zusammen. Röchelnd lag er auf dem Teppich, Hirnschlag. Ich pflegte ihn, bis er starb. Dann kam ich hierher und wurde Hotelpage und später Butler.«
Lewadski hätte gerne etwas Erbauliches gesagt. Schwer atmend, in einen Bademantel gehüllt, saß er auf der Bettkante und schaute auf das spiegelnde Schild an Habibs Brust. »Sie heißen Habib«, sagte Lewadski mit dem leichten Anflug einer Frage. Habib bejahte, indem er ein Doppelkinn machte.
Eine Straßenbahn bog quietschend in den Kärntner Ring. »Ich bin müde«, sagte Lewadski, »ich möchte jetzt gerneschlafen.« Habib entfernte sich. Seine Schritte waren von der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Schritte des Stubenmädchens. Beide gehörten ganz und gar zu dem wogenden feuerfarbenen Teppich, zu den weißen Türen und vergoldeten Klinken. Beide ließen dieses selbstsichere stolze Wissen in ihre Glieder hineinwachsen und in die Kraft ihrer Bewegungen. Habib drehte sich im Türrahmen noch einmal um und zog die Tür so behutsam hinter sich zu, als würde er vermuten, Lewadski sei im Sitzen eingeschlafen. Ich werde es niemals vergessen, dachte Lewadski, niemals.
IX
Viel Zeit zum Vergessen blieb Lewadski nicht mehr übrig. Laut Diagnose müsste es ihm dreckig gehen. Starker Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Fieber, Schwächegefühl – aber außer Herzrasen, das Lewadski wie einen Jugendlichen befiel, wenn er in seiner Elisabeth-Suite von Fenster zu Fenster ging oder die Kleinode des Zimmerinventars bewunderte, ließen alle diese Symptome auf sich warten. Das Herz allerdings meldete aus der Brusttasche von Lewadskis Schlafanzug unbändige Freude an den schönen Dingen, Freude und Lust, Schönheit zu schauen wie das lichte Angesicht Gottes. Schönheit trotz des ekelhaften Verfalls seines Körperinstituts, Schönheit trotz Hässlichkeit und gerade deswegen. Schönheit.
Lewadski trat ans Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete über den Arkaden eines Hauses der tröstliche Name Phoenix-Apotheke. Seit 1870 stand bescheiden in kleineren Buchstaben darunter. Zwei Straßenbahnen fuhren aneinander vorbei. Lewadski schaute auf die Wagen, die ihm die Sicht auf die Apotheke versperrten. Der Straßenbahnfahrer mit imposantem Bauchprofil schien im Dunkel seiner Kabine zu schlummern. Fang den Klang. Haus der Musik war auf der weißen Dachhaube des Waggons zu lesen.
Die andere Straßenbahn hielt direkt vor Lewadskis Fenster, es war eine moderne Konstruktion, schwarz-rot-grau-dunkelgrau mit greller Innenbeleuchtung.
Weitere Kostenlose Bücher