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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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bereits abholen. Da soll mir jemand sagen, es gebe zu viel Bürokratie!
    »Es geht weiter«, verkündete der Taxifahrer feierlich. »Ein Unfall mit ein paar Toten.«
    »Wunderbar«, sagte Lewadski und begann, die Knöchel seiner Hand auf dem Griff des Trinkstocks zu zählen, er zählte sie im und gegen den Uhrzeigersinn. Er zählte sie so lange, bis sie am Unfallort vorbeigefahren waren.
    Am Flughafen nahm das Gedränge weder auf Lewadskis schickes Äußeres noch auf sein hohes Alter Rücksicht. Zum letzten Mal, dachte er und tauchte in die nach Schweiß, Parfüm und Zwiebeln riechenden Menschenwogen ein. Nach einer geschlagenen halben Stunde wurde Lewadski ans Ufer der Pass- und Zollkontrolle gespült. Sein Trinkstock passierte die Kontrolle, ohne Aufsehen zu erregen. Lewadski folgte seinem Beispiel. Mein Gott, dachte er auf einer der harten Metallbänke vor dem Abfluggate sitzend, einmal hin und nie wieder zurück! Zur Beruhigung schraubte er seinen Trinkstock auf, warf den Kopf in den Nacken und trank den Inhalt des Glasrohrs: Cognac der Marke Drei Sternchen . Zum letzten Mal, dachte Lewadski, ein einheimisches Lebensmittel.
    »Was ist das, Onkel?«, fragte ein plötzlich aufgetauchtes Kind.
    »Ein Trinkstock, mein lieber Junge«, antwortete Lewadski.
    »Ich bin kein Junge«, brummte das Kind, »woher hast du den Stock?«
    »Aus einem Geschäft, Allee des Sieges 5. Gefällt er dir?«
    »Nein. Aber meinem Vater schon«, sagte das Kind und zeigte auf einen der breitbeinigen Zöllner, der, wie es Lewadski schien, ihm mit der Mündung seines Gewehrs freundlich zuzwinkerte.

VIII
    Am 6. November 2010 landete Lewadski in Wien. Es war Samstag und kurz nach vier. »Zum Hotel Imperial«, sagte er mit brechender Stimme zum Kobrarücken des Taxifahrers.
    »Oh, Imperial«, sagte der Taxifahrer, mit seiner Lederjacke knirschend, »wissen Sie, dass es das beste Hotel der Stadt ist?«
    »Ich weiß«, sagte Lewadski und spürte sein Herz an die Pforten des Hirns klopfen.
    »Wie lange bleiben Sie da?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Unsere Sprache sprechen Sie aber sehr gut!« Das Lob aus dem Mund des pechschwarzen Mannes brachte Lewadski zum Lachen. »Woher kommen Sie?«, fragte er Lewadski mit hartem Akzent.
    »Aus dem Osten.« Lewadski machte eine Pause. »Aus der Ukraine.« Es fiel ihm auf, dass er log. Er log, obwohl er dieWahrheit sagte. Im politischen Sinn kam Lewadski tatsächlich aus der Ukraine, das stand schwarz auf weiß in seinem Pass, doch historisch gesehen kam er aus zwei Utopien: aus Österreich-Ungarn und der Sowjetunion. Nach Lüge schmeckte einzig und allein die Erkenntnis, dass Lewadski zwei Staatssysteme überlebt hatte.
    »Die Ukraine kenne ich«, sagte der Taxifahrer, »ich habe in Deutschland Nachrichtentechnik studiert, mein Mitbewohner kam aus Kiew. Er hieß Petro und aß morgens immer saure Gurken, um seinen Kater in den Griff zu kriegen. Er scherzte gerne. Zum Beispiel sagte er, wenn ich mich am Kopf kratzte: nicht kratzen – waschen!« Lewadski brach in ein dreckiges Lachen aus und bat sofort um Entschuldigung. »Ja, Petro war lustig ...«
    »Haben Sie noch Kontakt mit ihm?« Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. Sein schwarzes Gesicht im roten Licht der Ampel schimmerte violett. »Er ist tot. Erfror besoffen auf einer Parkbank im Winter.«
    »Oh«, sagte Lewadski.
    »Ja«, sagte der Taxifahrer. »So etwas wäre ihm an der Elfenbeinküste nicht passiert. Da komme ich her.«
    Lewadski wurde der Taxifahrer mit jeder neuen Ampel sympathischer. Er hätte ihn gerne bei Tageslicht betrachtet. »Wie finden Sie unsere Sprache?«, fragte der Taxifahrer mit rollendem R.
    »Welche Sprache?«
    »Die deutsche Sprache«, lachte der Taxifahrer. Schön. Lewadski finde sie sehr schön und romantisch. Der Taxifahrer drehte sich rückenschonend um, seine Lederjacke knirschte gewaltig. »Wissen Sie, das ist das erste Mal, dass ich von jemandem höre, die deutsche Sprache sei schön. Ich freue mich, weil ich es genauso sehe.«
    »Das freut mich«, sagte Lewadski. Er hätte sich gerne weiter über die Schönheit der deutschen Sprache unterhalten, doch er sagte nichts. Er schwieg und genoss die aufsteigenden Blasen der Freude, genoss es, mit einem besonderen Menschen unter einem Autodach zu sitzen, einem schwarzen Taxifahrer, gebürtigen Ivorer, studierten Nachrichtentechniker, der die deutsche Sprache gepachtet hatte. Lewadski lächelte im Dunkel des Taxis.
    »Was halten Sie von der EU?«, wollte der Mann von der

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