Wer ist Martha? (German Edition)
Eine alte Dame mit einem riesigen weißen Pudel auf dem Schoß saß ganz vorne im Bereich für Schwangere und Behinderte. Der Pudel schaute mit gläsernen Augen aus dem Fenster auf einen noch weißeren Hund, der ihm als Rauchwölkchen hinterhergeschwebt war – ein Geist, ein ertränkter Zwillingsbruder, eine totgeschwiegene Hundesünde? Langsam schwamm die Straßenbahn vorüber.
Lewadski fuhr zusammen. Es waren doch keine angesengten Geldscheine, sondern welke Blätter, die über die Straße fegten. Ein weißer Pappbecher wurde in regelmäßigen Abständen vom unsichtbaren Fuß des Windes getreten. Ruhe, unfassbare Ruhe wie nach einem Donnerschlag breitete sich in Lewadskis schmächtigem Körper aus. Bitter und beängstigend. Schwindelerregend. Eine transparente Zwiebelschale in der dünn gewordenen Suppe von Lewadskis Leben.
Es müsste mir eigentlich schlecht gehen, dachte Lewadski, kleinzelliges Bronchialkarzinom heißt das Tier, das mich gebissen hat. Seine ganze lausige Seele legte es in den Biss. An sich eine bewundernswerte und selbstlose Tat. Lewadski sank auf sein Baldachinbett, schlief ein und träumte, er wäre in einer barocken Kirche im Orgelkonzert. Die Musik bringt ihn zum Weinen. Er wimmert wie ein Kind. Durch die Tränen sieht Lewadski, wie die Musik Bewegung erzeugt, wie sie die Glitzermoleküle der Luft zum Altar rollt, Billardkugeln gleich. Die goldenen Engel, die die Kanzel umschwirren, fallen zu Boden. Der heilige Petrus mit dem Kreuz in der sehnigen Hand fällt in den Abgrund, über den er sich beugt. Silberne und goldene Wolken krachen nach Hunderten von Jahren herunter, eine Staubwolke bedeckt Lewadski, der in Tränen aufgelöst der Orgel lauscht.
Ein Hustenanfall weckte Lewadski mitten in der Nacht. Er griff zur Brieftasche, die er auf den Nachttisch gelegt hatte, und zog ein Blatt Papier heraus, die Rechnung des Labors, die kurz vor seinem Abflug gekommen war. Er dachte nicht im Traum daran, sie zu bezahlen. Unter der ausgewiesenen Summe erlaubte sich ein frecher Laborant, Lewadskis Zustand zu kommentieren: Inoperabel, Chemotherapie und Bestrahlung zur Lebensverlängerung (einige Monate) empfohlen. Medikamente: Polychemotherapie.
»Grober Unfug«, schimpfte Lewadski vor sich hin. Er legte den Zettel zurück auf den Nachttisch. »Das Zeug scheint kein Veilcheneis zu sein!« Bis zum Morgengrauen wälzte er sich im Bett in Erwartung der Krankheitssymptome. Je mehr er sich auf die nasse Umarmung seines Nachthemdes konzentrierte, umso stärker schwitzte er. Es kommt, dachte Lewadski, nun kommt der Nachtschweiß.
Ein Stubenmädchen musste geklingelt haben und war weichtatzig hereingekommen, während sich Lewadski vor dem Spiegel im Badezimmer seine Druckknopfprothese wie eine viel zu große Semmel in den Mund schob. Lewadski erschrak und entschuldigte sich, dass er noch im Bademantel sei, er würde so schrecklich schwitzen. Das Stubenmädchen meinte, das läge an der Klimaanlage, die die Räume seinerSuite auf sagenhafte 25 Grad hochheizte. Sie drehte an einem an der Wand angebrachten Knopf, gleich werde es kühler, versprach sie, und außerdem gehe die Klimaanlage automatisch aus, wenn man eines der Fenster öffnete. Also doch kein Symptom, stellte Lewadski enttäuscht fest.
»Woher kommen Sie?« Das drahtige Stubenmädchen, das schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich strahlend um. Ihre Hände, zu klobig für ihre Arme, schienen zu flattern. Eine Wäscherin muss sie sein, dachte Lewadski, mit solchen Händen. Oder ein Fischreiher. Sie komme aus Südserbien. Aus der Nähe von Novi Pazar. Erschreckend, dachte Lewadski, wie peinlich die Freude des anderen einen berühren kann, wie einfach man sie wecken kann! Selbst mit einer profanen Frage, die man nur stellt, um nicht zu schweigen. Erschreckend.
»Novi Pazar ist schön. Dorf auch. Hier ist mein Haus.« Die Kurzhaarige holte ein zartrosa Mobiltelefon aus ihrer Schürze und deutete, nachdem sie einige Male auf die Tasten gedrückt hatte, auf ein Bild, auf dem Lewadski nichts außer einer vernachlässigten Baustelle mitten auf einem sanften waldumsäumten Hügel sehen konnte.
»Mein Herz ist mein Haus. Grün«, lächelte das Stubenmädchen in Richtung Lewadskis misstrauischer Augenbraue. »Ich baue zu Ende, wenn zurück. Hier fertig gearbeitet, da fertig gebaut. Hier«, das Stubenmädchen umkreiste mit einem Finger die Leere außerhalb des Bildes, »Haus meiner Schwester. Wir neun Kinder. Zwei Schwestern gestorben. Hier!« Das
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