Wer ist Martha? (German Edition)
mit den Etagennummern sind! E für Erdgeschoss, M für Maisonette und meine Suite, 1, 2, 3, 4, 5. Eine Lachmöwe auf dem Deck. Eigentlich Unsinn, denn sie kann gar nicht auf dem Deck sein. Eine Lachmöwe kann nicht anders, als den Schiffen zu folgen. Sie folgt den Ozeanriesen, die langsam aus dem Hafen auslaufen. Sie erhascht alles, was ihr die Matrosen zuwerfen: Blumen, Kartoffeln, Nägel. Jawohl. Mit ihrer schokoladenfarbenen Kopfmaske zur Brutzeit ist die Lachmöwe von den anderen Möwenarten leicht zu unterscheiden, vorausgesetzt man weiß, wer sie ist. Ich weiß es. Meine eigene Leibhaftigkeit würde ich jedoch in diesem Augenblick gerneund ernsthaft in Frage stellen. So tröstlich sind die Lichter hier in der goldenen Kabine, so dumpf jede Erinnerung an den Schmerz, so matt. Jederzeit kann ich den Flug abbrechen oder verlängern und in eine andere Dimension gelangen. In die fünfte und letzte Etage zum Beispiel. Doch jetzt wird geschwebt.
Der Aufzug öffnet seine Brust. Auf den Teppichboden zu treten, den Fuß geräuschlos ins Weiche zu tauchen, ist eine Offenbarung. Lewadskis Entzücken weicht dem Staunen: In einer Vitrine direkt vor dem Eingang zum Café glitzert ein schwarzgoldenes Opernglas, von einer elegant geflochtenen Kette umschlängelt. In der Vitrine daneben strahlen blütenweise Kopfkissen mit den Initialen des noblen Hauses, Servietten, gestärkte Bettwäsche. Lewadski verneigt sich vor den unscheinbaren und durch die Vitrinenbeleuchtung so gut zur Geltung gebrachten Schätzen. Durch die Glasscheibe bewundert er eine Porzellanpuppe in Stubenmädchenuniform mit einem winzigen Staubwedel in der Hand. Die Tür des Hotelcafés knarrt, parfümierte Damen gehen aus und ein, ihre Schritte werden vom Teppich geschluckt, auf dem Marmor im weitläufigen Foyer rächen sich ihre Stöckelschuhe für die kurze Benachteiligung.
Das Knarren der Tür im Rücken, durchschreitet Lewadski das weiche Lüsterlicht des Cafés, Klavierklänge umspülen seine alte Karkasse, ein Ober mit einer Speisekarte in der Hand entsteigt der Musikkulisse und geleitet den Gast zu einem der Tische in der Nähe des Flügels. Alles passt zueinander, das Licht zum Teppichboden, das gedämpfte Klimpern zum sanften Schimmer der Spiegel. Nur Lewadski und der Ober stechen heraus aus dieser schläfrigen Lava. Solange sie in Bewegung sind. Schon sitzt Lewadski. Auch der Ober, der so flink zwischen den Tischen hin und herschwirrt, wird bald zu einem der Interieurelemente. Selbst in einem so kleinen Raum verschwimmt der Mensch, wundert sich Lewadski, als würde der Raum so viel Seele besitzen, dass wir, seine eigentlichen Beseeler, plötzlich darin untergehen.
Der Pianist trocknet sich die Stirn und haut mit einem aufmunternden Nicken und kaum hörbarem Schnauben in die Tasten. I did it my Way . Seine Augen, zwei matte Knöpfe, möchte Lewadski am liebsten polieren. Die Freundlichkeit des Barpianisten dem Greis gegenüber ist zwar ernst gemeint, aber auch pure Diskriminierung. Lewadski erwidert das Lächeln. Es gebührt ihm. Ihm, der so viel beachtet hat. So viele Schwimmvögel, Nachtraubvögel, Tagraubvögel, Buschkletterer, Ruderfüßler und Stelzvögel, Ameisenvögel, Blauwürger, selbst solch ruhige und gesellige Nordländer mit schönem Schopf wie die Seidenschwänze. Auch sie hat Lewadski beachtet. All die Früchte seines Gartens, den er nicht hatte, hätte er den Seidenschwänzen gegeben für ihren klirrenden Ruf. Lewadski öffnet die Dessertkarte. Fressen sie ohne Unterlass, glaubt man, der Winter werde hart werden. Was grober Unfug ist – der Vogel frisst immer ohne Unterlass. Es ist wie das Atmen. Wie das Denken.
Gekochter Grießstrudel »Alt Wiener Art« mit Marillenröster , 13 Euro. Der Vogel frisst, weil er auf diese Art kommuniziert. Gedankenlos und ohne Tücke. Er spricht durch die Früchte, die er frisst, mit den Bäumen.
Tarte Tatin von Apfel und Birne mit Walnusskrokanteis , 14 Euro. Durch die Samen, die er verschlingt, spricht er mit den Büschen und Blumen.
Valrhôna-Schokoladentörtchen mit Kirschsorbet und Mon-Cherie . 15 Euro. Er schwirrt mit im ewigen Kreislauf. Strenger Winter hin oder her.
Der Pianist scheint in Lewadski einen Adressaten für seine noblen Mitleidsregungen gefunden zu haben. Anerkennend schielt er zu ihm herüber und spielt Bridge over Troubled Water .
Geeiste »Mozartknöderl« mit Amaretto-Espuma , 12 Euro. Die Knopfaugen des Klavierspielers blitzen an manchen Stellen so vergnügt, als gäbe
Weitere Kostenlose Bücher