Wer ist Martha? (German Edition)
redet er sich im Halbschlummer ein, dass du mit dem Spazierstock sprichst, keine große Sache, er hat ja niemanden außer dir. Ich halte es nicht für eine Marotte. Mit den Menschen hast du genug kommuniziert, auch wenn du nie gesprächig warst. Deine Körperhaltung hat für dich gesprochen, deine Mimik, dein Verhalten, dein Energieverbrauch. Auf die Signale der anderen hast du immer gebührend reagiert und respektvoll geschwiegen. War das vielleicht keine Kommunikation? Was jammerst du denn?, fährt Lewadski sich selbst an. Doch er hört kaum zu, der Träumer.
Lewadski schläft ein und träumt, er sitzt immer noch imCafé und wartet auf seine Bestellung. Es wird Abend. Überall brennen Kerzen. Gelangweilt schaut er einem Liebespaar beim Küssen zu und übergibt sich. Er versucht, sich möglichst unauffällig zu übergeben, abwechselnd in einen der Ärmel seines neuen Anzugs. Geräuschlos, feige, rücksichtsvoll speit er sich die Seele aus dem Leib, bis seine Anzugärmel Feuer fangen. Entsetzt springt Lewadski auf den kleinen Tisch vor ihm und fängt an, wie wild zu tanzen. Das Liebespaar fühlt sich gestört, empört sich lautstark und speit den Inhalt seines romantischen Abendessens in Richtung des Störenfrieds. Der Ober, sichtlich gealtert, eilt mit Lewadskis Bestellung auf dem Silbertablett die Tischreihen entlang. Zu spät, winkt Lewadski ab, der Ober glaubt es nicht. Er schaut auf den Boden und dann auf Lewadski, auf den Boden und wieder auf Lewadski, das Liebespaar wird heiser vom Speien, dennoch halten sie sich eng umschlungen wie zwei Ertrinkende. Lewadski brennt lichterloh und tanzt, und der Ober, der Sture, traut sich doch aufs Eis, das eben noch Teppichboden war, gerät ins Straucheln und fällt und fällt und fällt ...
Die Erinnerung an den Tanz im Traum sowie der Umstand, dass er, ohne sich auszuziehen, ins Bett gegangen war, wärmen beim Aufwachen Lewadskis Herz. Wie ein großmächtiger Herrscher kommt er sich vor. Peter der Große, sagt man, habe mit seinen Reitstiefeln in schneeweißen Federbetten genächtigt, die ihm bereitzustellen jedes Königshaus Europas für eine Ehre gehalten hätte. So liegt Lewadski da. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht mit einem Großfürsten, sondern mit einem Toten im Sarg verglichen, aber in dieser nachtblauen Suite, erfüllt vom Verwesungsduft erlesener Blumen, ist er das, was er nicht ist. Ein gestiefelter Infant. Fast bereitet es ihm körperliche Lust, sich für seine Eskapaden und Unsitten zu schämen.
Lewadski richtet sich im Bett auf. Die Spiegeltür zeigt unter einem Schlachtenbild einen glatzköpfigen verschlafenen Greis, einen Anflug von Verzweiflung in den trüben Augen, die Finger nesteln an den Knöpfen der Weste.
Plötzlich verspürt Lewadski ein starkes Bedürfnis nach einer saftigen blutroten Nelke. Ohne Nelke im Knopfloch ist er ein halber Mensch. »Habib«, fleht er weinerlich in den Hörer, »kommen Sie.« – »Bitte«, fügt er hinzu, als Habib schon aufgelegt hat. Einige Minuten später klopft der Butler weich an die Tür und kommt herein.
»Seien Sie so freundlich«, bittet Lewadski vom Bett aus, »schauen Sie nach einer Nelke im Blumenstrauß da drüben auf dem Tisch.« Habib blinzelt einige Male, bevor er sich traut zuzugeben, dass er nicht weiß, was eine Nelke ist. »Eine Nelke«, lacht Lewadski, »ist eine Blume. Man schenkt sie der Lehrerin nach den Sommerferien, und man streut sie den Leichenzügen hinterher.«
»Ach so!« Habib kratzt sich ungläubig am Hals.
»Und man versucht, nicht auf sie zu treten, genauso wenig wie auf jede andere Leichenzugblume, sonst glaubt man sterben zu müssen oder jemanden aus der nahen Verwandtschaft zu verlieren.«
»Eine Nelke«, wiederholt Habib träumerisch.
»Lenins Lieblingsblume.«
»Lenin ...«, schwärmt Habib.
»Unter den Blumen müsste doch eine Nelke sein!«, stöhnt Lewadski.
»War das der, der als Erster auf den Mond geflogen ist?«, erkundigt sich Habib, den Strauß beschnuppernd.
»Das war Gagarin, er war der Erste im Weltall.« Lewadski ist nicht zum Lachen zumute. »Eine Nelke, Nelke ...« Er ist am Verdursten. Am Verbluten. »Geben Sie mir am besten dieVase, junger Mann«, bittet er kühl. Mit einem Sprung ist Habib am Bett. »Kruzitürken noch einmal! Keine Nelke! Na gut, dann eben nicht.« Lewadski zuckt mit den Schultern und gibt Habib die Vase zurück. »Wo sind wir denn stehengeblieben?« Habib schweigt mit gesenktem Blick. »Ach Gottchen, helfen Sie mir doch
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