Wer ist Martha? (German Edition)
»mein Enkel, stell dir nur vor, hat mir neulich gesagt, Oma, du stinkst. Da habe ich Tränen gelacht, wieso denn, Liebling, Oma stinkt doch nicht, das ist Parfüm. Oma, du stinkst, stell dir das nur vor!«
»Guten Appetit«, der Kellner kommt, stellt den Teller ab und verschwindet sofort wieder.
»Das Iberico-Schwein wird eine Herausforderung«, denkt Lewadski, die dramatische Komposition von Fleischscheiben und im Kreis verschmierter Sauce durch die Lupe bewundernd.
»Es dampft ja richtig«, kommentieren die Damen am Tisch gegenüber neidlos und anerkennend.
»Wenn mein Gebiss nur nicht streiken würde«, jammert Lewadski, »es ist für solche Köstlichkeiten nicht gemacht.«
»Was haben Sie denn für ein Gebiss?«
»Ein Auslaufmodell.«
»Keramik ist nicht gut«, verrät eine der Freundinnen, »sie klappert so schrecklich.«
»Und bricht oft ab«, seufzt die andere. Lewadski nickt und widmet sich dem Iberico-Schwein, das zu bestellen purer Wahnsinn gewesen ist, ein sicheres Symptom seiner Krankheit. Beim Kauen spürt er besorgte Blicke vom Nachbartisch.
»Geht es?« Ja, es geht, das Schwein meint es gut mit ihm.
»Butterweich«, bestätigt Lewadski. Die Damen verkünden ihre aufrichtige Freude und plaudern beruhigt weiter über all die Nebensächlichkeiten, die sie glücklich zu machen scheinen.
Vom barmherzig zarten Iberico-Schwein besänftigt, gönnt Lewadski jedem sein Glück. Beim Kaffee schweift sein Blick vom Damentisch zu den umherirrenden Kellnern, von den konzentriert kauenden Restaurantgästen zu den schmalen Glasvasen mit Flamingoblumen, die an polierte Seerosenblätter mit einem herausragenden großporigen Penis erinnern. Lewadski schließt ein Auge.
»Ein netter Mann, doch wie er sie behandelt, ist unter aller Sau«, trällern die Freundinnen, »heute dies, morgen das, Geld für alles, doch das Haus musste sie als Hochschwangere selber putzen ... Vielleicht ihre Kaufsucht ... Was braucht sie schon, Geld hat sie ... Was Nettes zum Anziehen, Kosmetik, was man als junge Frau eben so braucht ... Aber hochschwanger, ich bitte dich. Da will man nur seine Ruhe. Unter aller Sau, sag ich dir, der Mann ... Die Kruste ist das Beste ... Die Salzkruste schmeichelt so richtig ... Auf deine Bluse, Süße ...«
Lewadskis zweites Auge fällt zu. »... dem Menschen nicht gegeben, unser Los wohl, Schaumrahmsüppchen«, vernimmt er noch mit seiner Nasenhaarantenne, grunzt leise auf und sackt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Rücken der Stühle baut ihn wieder auf. Und wieder stürzt das Kartenhaus. Wieder und wieder, bis der Kellner mit dem Keramikgebiss das Schließen des Restaurants in Lewadskis linkes Ohr ankündigt.
1
ZIMMER / ROOM 101-128
»Wissen Sie«, Lewadski legt die Hand auf Habibs Handschuh, »gestern noch war ich entsetzt, als ich feststellte, dass ich mit meinem Spazierstock und anderen unbelebten Gegenständen mehr spreche als mit lebendigen Menschen. Nun wurde ich heute Nacht von einer anderen Beobachtung überwältigt.« Habib reißt die Augen auf. »Ja, ja, heute Nacht richtete ich mich im Bett auf und sagte zu mir: Du hast hier in diesem Hotel in diesen paar Tagen so vielen Menschen beim Reden zugehört und selbst so viel geredet wie in den letzten zwanzig Jahren nicht. Dann wollte ich Wasser trinken, traute mich jedoch nicht aufzustehen. Und wissen Sie, Habib, niemand war da, um mir zu helfen. Das ist jetzt kein Vorwurf, es ist mir klar, dass Sie nachts nicht arbeiten, niemand hat mir in all den Jahren ein Glas Wasser ans Bett gebracht, ich bin es gewohnt. Und trotzdem regte sich etwas wie Freude in mir,als ich so hilflos im Bett saß. Freude über mein Unter-den-Menschen-Sein. Verstehen Sie?« Habib nickt und zieht seine Hand zögerlich zurück. »Ich darf jetzt mit gutem Gewissen mit meinem Gehstock sprechen, verstehen Sie, Habib?«
»Sie dürfen alles«, sagt Habib. Es ist nichts Sarkastisches und Ernstes in seiner Stimme. Nur Transparenz, Leichtigkeit, Wohlwollen.
Lewadski stellt sich vor, der kühle Glacéhandschuh des Butlers würde jetzt seine Hand eine Sekunde lang drücken, freundschaftlich, verständnisvoll, vielleicht auch etwas mitleidig. Genau das darf er nicht, denkt Lewadski, als Hotelbutler und als Kind des Orients. Wer weiß, wie viel Nähe ein Jüngerer einem Älteren in seiner Heimat entgegenbringen darf.
»Möchten Sie einen Schluck Wasser?«, erkundigt sich Habib.
»Lassen Sie mir am besten ein Bad ein«, bittet Lewadski. Habib bewegt sich
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