Wer ist Martha? (German Edition)
nimmt.
»Ja, vor hundert Jahren«, lacht Herr Witzturn, Lewadski überholend. »Heute Abend gehe ich mit Ihrer Erlaubnis voran.«
»Ist mir recht. Sie sind auch der Größere«, schmettert ihm Lewadski fröhlich in den Rücken. »Fast fühle ich mich wie ein Amselweibchen in der Brutsaison neben Ihnen!«, gesteht er schwer atmend im Foyer.
Die wenigen Stufen haben auch Herrn Witzturn zu schaffen gemacht. »Ich mag Sie«, keucht er, an eine Säule gelehnt, »ich mag Sie, Herr Lewadski, obwohl Sie einen miesen Charakter haben.« Lewadski empört sich mit einem leisen Pfeifton. »Ich nehme aber an«, ergänzt Herr Witzturn, »das Miese an Ihrem Charakter hat sich mit fortschreitendem Alter zugespitzt.«
»Sehr tröstlich«, bedankt sich Lewadski und schaut sich um.
Die Krautstampfer haben inzwischen ihre Mäntel abgelegt und begutachten gegenseitig ihre, wie es Lewadski scheint, dürftige Festkleidung. »Sehr schäbig«, bestätigt Herr Witzturn, der Lewadskis Blick gefolgt ist.
»Ach, ich habe meine Lupe vergessen!« Lewadski fasst sich an die Stirn.
»Und die Karten?«
»Habe ich dabei, nur fragt keiner danach.«
»Wir sind noch nicht im Saal«, beruhigt ihn Herr Witzturn. »Wir werden auch nicht im Saal sein, wir sitzen nämlich in einer Parterre-Loge. Erste Reihe.«
Herr Witzturn klemmt sich seinen Spazierstock zwischen die dünnen Beine und zieht seinen Mantel aus. Lewadski nimmt ihn geschickt in Empfang und wird von Herrn Witzturn mit einem strahlenden Lächeln belohnt. »Bleiben Sie hier, ich bringe unsere Mäntel weg.«
»Erlauben Sie, dass ich das übernehme, Herr Lewadski.« Als Herr Witzturn zurück ist, reicht ihm Lewadski das Programm, das er eben besorgt hat. »Ich freue mich schon sehr.«
»Dann wollen wir mal«, sagt Lewadski, »ich ebne Ihnen den Weg durch die Menge.«
»Komisch, wir wurden gar nicht kontrolliert«, bemerkt Herr Witzturn, als er es sich auf einem gepolsterten Sessel bequem macht.
»Doch, Sie haben es nur nicht bemerkt. Da war eine junge Dame am Eingang zur Loge.«
»Ach so, dann bin ich beruhigt.«
»Warum beruhigt, wenn ich fragen darf?«
»Nicht, dass wir den Staat übers Ohr hauen«, lacht Herr Witzturn ins Publikum. »Schau, schau, eine graue Welle nach der anderen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine die Grauhaarigen in Feierlaune«, flüstert Herr Witzturn und streichelt seinen glatten Schädel.
»Durch leicht zugekniffene Augen«, lästert Lewadski, »sehen diese Leute aus wie das Meer an einem bewölkten Tag.«
»Und die da drüben!«, Herr Witzturn versucht seinen Zeigefinger im Zaum zu halten, »die sieht aus wie ein Lampenschirm.«
»Vielleicht, weil sie einen Hut trägt?«, rät Lewadski.
»Richtig. Aber, meine Güte, wie geschmacklos. Ich meine, wenn man so hässlich ist, versucht man doch wenigstens, durch dezenten Schmuck und schlichte Kleidung dem Auge zu schmeicheln.«
»Durch gewinnende Charaktereigenschaften, ein freundliches Lächeln, Herzenswärme«, zählt Lewadski weiter auf. »Ich kann den Lampenschirm leider nicht sehen.«
»Oh!«, stößt Herr Witzturn aus, »eine Sekunde!«
»Wohin gehen Sie?«
»Sekunde.«
»Es geht gleich los.«
»Ja, ich komme ja wieder.«
»Sie stolpern noch im Dunkeln. Wohin gehen Sie?«
»Hände waschen!«, brummt Herr Witzturn und drängt sich an Lewadski vorbei.
Das hätte er sich wirklich früher überlegen können, denkt Lewadski und blickt auf das wogende Meer vor sich. Hier und da registriert er ein leuchtend rotes Kleid, ein hellblaues Tuch, eine geschminkte schwarzhaarige Schönheit, eingeklemmt zwischen zwei morschen Pilzen. Mit klopfendem Herzen nimmt er den Goldton der Blechinstrumente auf der Bühne wahr, weiße Nymphen, goldene Nymphen mit wohlgeformten Armen, das Holz der Kassettendecke. Wo bleibt der alte Knabe? Langsam steigt in Lewadski Unruhe auf. ImSaal und auf den Balkonen werden die Plätze eingenommen, die Lichter der großen birnenförmigen Kronleuchter werden gedämpft. Als würde man sie am Spieß grillen, drehen sie sich langsam, vom Atem der Menschen erhitzt, und wären alle stumm und erstarrt, würde man, Lewadski könnte wetten, ein zärtliches Klirren aus dem Gehäuse der Kronleuchter hören.
»Voilà!«, keucht Herr Witzturn Lewadski ins Ohr, »ein Geschenk für Sie«, und reicht ihm ein schwarzes Samtkästchen, das sich in Lewadskis Hand recht schwer anfühlt.
»Was ist das?«, flüstert Lewadski.
»Machen Sie auf.«
»Was ist da drin?«
»Machen Sie doch auf und
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