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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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dass ich sie am liebsten irgendwo vergraben möchte.« HerrWitzturn neigt den Kopf zur Seite und kaut auf seiner Lippe. »Was soll ich sagen ... ich kenne jeden Kratzer«, setzt Lewadski fort, »selbst die Umstände, unter denen die Lupe diese Kratzer bekommen hat ... und jetzt, neben dem schönen Opernglas ...«
    »Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben«, unterbricht ihn Herr Witzturn, »das Leben ist ungerecht.«
    »Doch!«, Lewadski wird ganz heiß. »Und wie gerecht ist das Leben!«
    »Erlauben Sie dann, dass ich Sie aufkläre«, sagt Herr Witzturn und stellt sein leeres Glas entschlossen auf den Tisch.
    Was für ein eingebildeter Lackel, denkt Lewadski, und den fand ich auch noch sympathisch? Sein Opernglas werde ich an die Wand hängen, und dort soll es verstauben.
    »Schauen Sie«, sagt Herr Witzturn, »wir sind im gut geheizten Musikverein, trinken Schaumwein und schwelgen in Musik.«
    Sie schwelgen im Schlaf, Sie Pennbacke!, denkt Lewadski.
    »Aber das heißt nicht im Geringsten«, setzt Herr Witzturn fort, »dass das Glück auf unserer Seite ist. Wenn die Welt, die wir kennen, das Sichtbare und das Unsichtbare, eine Art Fluss ist, so sitzen wir gar nicht im Konzert.« Herr Witzturn schaut erwartungsvoll auf Lewadski.
    »Wir sind in der Konzertpause und halten uns an einem Stehtisch fest.«
    »Wir können gar nicht in dieser Parterre-Loge der gehobenen Klasse sitzen, Herr Lewadski, weil, und jetzt muss ich tief Luft holen, weil alles fließt. Alles verändert sich.« Lewadskis Augenbraue kriecht als magere Raupe auf sein Schädelplateau, wo nichts wächst, was sie allerdings noch nicht weiß. »Während wir hier im Warmen, fein angezogen ein gepflegtes Gespräch führen, liegen wir beide halb erfroren mit Leberschaden in der Gosse ...«
    »Haha!«
    »... bringen als Analphabeten ein Kind zur Welt in einer Arbeiterfamilie ...«
    »Hahaha!«
    »... schwitzen in einer tiefen Kohlenmine in Indien, urinieren als Hooligans von einer Brücke in London ...«
    »Ha!«
    »... und werden zum zehnten Mal eingesperrt ...«
    »Muhaha!«
    »... während wir in unserem Hotel im Aufzug auf- und absausten ...«
    »Ich dachte, Sie sind die Hoteltreppe heruntergelaufen, Sie Sportler!« Lewadski hält sich den Bauch vor Lachen.
    »... während wir auf die Knöpfe des Aufzugs drückten und Strom verbrauchten«, setzt Herr Witzturn mit geschlossenen Augen fort, als stünde er im strömenden Regen, »während wir Pralinen von der Etagere nahmen und Kaffee aus viel zu kleinen Tassen tranken, herausgeputzt wie zwei Fasane ...«, Herr Witzturn schmatzt bitter mit dem Mund, »ich weiß nicht, wo Sie waren, Herr Lewadski, aber ich lag zwischen den Leichen meiner Kameraden in meinem eigenen Kot und schoss auf Menschen, die ich nicht kannte.«
    »Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein!«, ruft ein junger Mann in die Menge der Büfettgäste.
    »Das heißt nicht, dass ich von diesem Wissen so ergriffen bin, dass ich weder genießen noch mich des Lebens freuen kann, Herr Lewadski«, fügt Herr Witzturn eilig hinzu und löst seine Finger von der Tischplatte, »erst recht freue ich mich über die Illusionen, die ich schaue. Kennen Sie die Laterna magica?« Lewadski nickt und folgt Herrn Witzturn auf dem Weg in die Loge. »Ich gehe davon aus, dass wir in so einem Ding wohnen. Wir alle. Alle Menschen.«
    »Aber nicht die Tiere!« Lewadski legt seine Hand auf das Herz. »Nicht die Tiere!«
    »Was die Tiere angeht, so bin ich recht unbeleckt«, sagt Herr Witzturn und greift nach der Klinke der Logentür. »Ich wollte nur mit meinem für Sie offenbar so amüsanten Monolog zu verstehen geben, dass wir Menschen, wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, von einer Chimäre reden. Es gibt keine Gerechtigkeit. Es gibt nur Glück und Unglück, die beiden Seiten einer Medaille, und noch etwas Besseres.«
    »Und das wäre?« Herr Witzturn lässt Lewadski vorbei, schließt die Logentür hinter sich, lehnt seinen Spazierstock an die Wand und sagt:
    »Freude an der Freude.«
    Beeindruckend, denkt Lewadski in der dämmrigen Parterre-Loge, und reif für die Bühne. Mit diesem alles relativierenden Glauben an eine Art Mehrdimensionalität der Welt ist der Mensch schon weit gekommen. Und immer nur im Kreis gelaufen. Dafür große Töne, dramatische Spannungsbögen, ein Wirrwarr von Spekulationen und sich erschöpfenden Erklärungen. Doch im Tierreich, Lewadski schielt zu Herrn Witzturn hinüber, der die Augen wieder geschlossen hat, im Tierreich gibt es keinen

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