Wer ist Martha? (German Edition)
schauen Sie selbst. Habe ich für Sie aus dem Angebot der Hotelvitrine ausgesucht«, verrät Herr Witzturn, bevor Lewadski das schwarze Kästchen öffnet.
»Sie sind des Wahnsinns.«
»Öffnen Sie, öffnen Sie!«
»Sie sind verrückt.«
»Kommen Sie, machen Sie auf.«
»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie eben zurück ins Hotel gelaufen sind.«
»Nein, bin ich nicht«, kichert Herr Witzturn.
»Etwas leiser, die Herren!«, mischt sich eine männliche Stimme aus dem Dunkel ein.
»Ich habe es für Sie heute Nachmittag gekauft«, versucht Herr Witzturn leiser zu flüstern, »und das Päckchen in meiner Manteltasche vergessen. Machen Sie es doch endlich auf.«
»Sie beschämen mich«, wispert Lewadski und öffnet die schwarze Kiste geräuschlos. »Ein Fernglas!«
»Da ich Ihr Faible für Vergrößerungsgläser kenne ...«
»Oh, und was für ein schönes! An einer Goldkette!«
»Da steht luxury collection«, Herr Witzturn deutet mit demFinger auf die goldenen Buchstaben auf der Innenseite des Kästchens, »ich dachte, das passt zu Ihnen.«
»Ruhe!«, bittet eine weibliche Stimme und gibt sich einem bösen und langanhaltenden Hustenanfall hin.
»Die Bitte können wir nur wiederholen«, flüstert Lewadski Herrn Witzturn zu, in der Hoffnung, dass die Botschaft ihr wahres Ziel erreicht. Er nimmt das Glas aus der Box und legt sich die lange Kette um den Hals. Mit einem verzückten Lächeln schaut Lewadski durch das Opernglas auf die Bühne und sieht – nichts. Er schaut viel weiter, er schaut in seine eigene Freude hinein. Die Anwesenheit von Herrn Witzturn erfüllt Lewadski mit einer Art Rausch, einem wachsenden, alles niederreißenden Triumphgefühl. Er könnte Bäume fällen, er könnte einen Säbeltanz vollführen, ja, er würde einen Säbelzahntiger im Kampf bezwingen, nur weil er beschenkt wurde mit einem einzigen Gedanken. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, raunt Lewadski.
»Nichts zu danken.« Herr Witzturn hat seinen Kopf gehoben, sein Blick reitet auf den Wellen von grauem und gefärbtem Haar, stolpert über ein paar Glatzen und versinkt im Schaum der Musik. Er schließt die Augen. Lewadski versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren, es gelingt ihm nicht. Das elegante Opernglas um seinen Hals hat eben einen neuen Menschen aus ihm herausgezaubert und auf seinen Schoß gesetzt. Es passt zu mir, hat er gesagt, denkt Lewadski und betrachtet Herrn Witzturn, wie er mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl zu schaukeln beginnt. Luxuskollektion ... Herr Witzturn grunzt leise und fasst sich an die Brust. Und wieder gibt er sich der Musik hin.
In der Pause wartet ein Silbertablett mit zwei randvollen Sektgläsern auf einem Stehtisch. Eine Klappkarte mit demNamen Lewadski steht davor. »Sie sind eine Berühmtheit«, scherzt Herr Witzturn und greift nach einem Sektglas, das er schwappend Lewadski entgegenhält. Das andere zieht er etwas vorsichtiger zu sich heran. »Ich liebe Musik, und ich danke Ihnen für den Genuss des heutigen Abends«, sagt Herr Witzturn, am Glas nippend. »Ihre Sehhilfe steht Ihnen sehr gut.« Lewadski streichelt das Opernglas an seinem Bauch.
»Sie haben mich zu Tränen gerührt, Herr Witzturn.«
»Warten Sie, ich lese Ihnen etwas vor. Geben Sie mir freundlicherweise das Kästchen.« Herr Witzturn faltet den Zettel mit der Gebrauchsanweisung auseinander. »Zimmer mit Aussicht. So heißt wohl das Ding. Seht hernieder auf die Engel!«, deklamiert er mit veränderter Stimme. »Seit mehr als 135 Jahren spähen Sie den großen Maestros am Pult der Wiener Philharmoniker quasi über die Schulter, na, so lange lebt man nicht ... Mit Liebe zum Detail«, fährt Herr Witzturn mit erhobenem Finger fort, »richten Sie Ihr Augenmerk auf das Wesentliche. Das elegante Opernglas eröffnet Ihnen ungeahnte Perspektiven, ohoho, und einzigartige Erlebnisse, viel Spaß, Herr Lewadski. Viel Spaß im Reich der Musik. Und danke für den Sekt.« Die Tränen in Lewadskis Augen lassen die ohnehin verzerrte Aussicht noch mehr verschwimmen.
»Ach, Sie haben mir ein wunderschönes Geschenk gemacht. Wissen Sie«, Lewadski trocknet die Tränen, indem er unter dem Vorwand der Nachdenklichkeit zur Decke schaut, »ich muss Ihnen etwas gestehen.« Herr Witzturn nickt. »Für meine Lupe, die Sie bereits kennen, habe ich mich immer ein wenig geschämt. Und nun, wo ich dieses schöne Opernglas in der Hand halte«, Lewadskis Stimme zittert, »ehehem, da ist sie mir einfach peinlich, die gute alte Lupe, so peinlich,
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