Wer ist Martha? (German Edition)
Platz für dieses vielleicht hier, vielleicht da, Laterna magica. Da sitzt eine hochbetagte Amsel auf der Spitze einer Birke und zwitschert sich die Seele aus dem Leib wie ein junges Ding, ohne sich zu schonen, unerschütterlich in ihrer Liebe zur Natur, den anderen Amseln, zu ihrem eigenen kleinen Leben, das sie im nächsten Augenblick mitten im Gesang altersbedingt aushaucht. Das ist das wahre Glück.
Verärgert muss sich Lewadski eingestehen, dass er wieder nicht in der Lage ist, sich auf die Musik zu konzentrieren. Nicht einmal die Gesichter der Musikerinnen interessieren ihn. Dabei wäre es jetzt eine gute Gelegenheit, das Opernglas zum Einsatz zu bringen. Aber nein, Lewadski schmollt im Dunkel der Loge neben dem fiependen Herrn Witzturn. Je mehr er fiept, je mehr er im Schlaf jammert und mit den Beinen zuckt, umso mehr hasst ihn Lewadski. Er ist wohl auf einer Treibjagd, der alte Hase, denkt Lewadski, rennt, was das Zeug hält. Oder wollte er mir mit seiner Schützengrabengeschichte etwa klar machen, dass sein Leben intensiver war als meines? Geschickt, sehr geschickt. Und wie selbstverliebt, auf Kosten all der Toten ...
Währenddessen neigt sich der erste Satz der Symphonie samt Träumereien und Leidenschaften dem Ende zu. Der unglückliche Verliebte kostet das verzehrende Liebesfeuer aus und setzt sich in den Schatten eines Baums, um über seine heikle Lage nachzugrübeln. Die Symphonie fantastique war nie mein Ding, denkt Lewadski, darum ist es auch nicht allzu schade um die teuren Karten – der eine schläft, der andere ärgert sich. Und Berlioz selbst ist auch eine zwiespältige Figur in der Musikgeschichte, es ist schon mutig vom Direktor des Musikvereins, diesen musikalischen Abenteurer ins Programm zu nehmen und auch noch Glasunow, der im Grunde genommen eine talentlose, weinerliche Schnapsdrossel war. Mutig vom Dirigenten und vom Orchester, die beiden Pfeifen für all die Pseudomusikfreude wie mich auf diese rührende Art zum Leben zu erwecken. Zum Teufel mit der Musik!
Mit einer unbeholfenen Armbewegung versetzt Lewadski dem Sessel einen Stoß, dessen gepolsterte Rückenlehne entlang Herr Witzturn herunterfließt wie eine in Anzug und Schuhe gezwängte Teigmasse. Wenigstens der soll sich zusammenreißen. Die Karten waren schließlich nicht umsonst. Was mich anlangt, so bin ich für den heutigen Abend verloren. Lewadski rüttelt Herrn Witzturn am Jackettärmel.
»Was wollen Sie?«
»Oh, Entschuldigung, ich dachte ...«
»Dass ich eingeschlafen bin?«, fragt Herr Witzturn schläfrig. »Es ist mein gutes Recht, als Besucher dieses noblen Hauses, meine erste Pflicht«, lallt er, »mich der Musik so hinzugeben, wie es mir beliebt. Also bitte.« Während sich die Augen von Herrn Witzturn wieder schließen und zu zwei samtenen Fallgruben werden, schwillt seine markante Unterlippe zu einer Obszönität an.
Alter Gaul, flucht Lewadski in Gedanken, so wagt er es, mir die Nase zu zeigen.
Der zweite Satz bricht ausgelassen und etwas kapriziös über Lewadski herein. Ein Ball, ein Ball! Der liebestolle Künstler tanzt sich die Füße wund an der Seite des angehimmelten Wesens. Eine Chimäre führt den Schmachtenden an der Nase herum. Er lässt sich führen und verführen, denkt Lewadski, im Tierreich hingegen lässt es die Natur nicht zu, dass länger als nötig gebalzt wird. Doch allzu lange dauert auch der zweite Symphoniesatz nicht. Ein Ball, ein Rausch, ein Scherbenhaufen.
Was für eine schmutzige Instrumentation, fast möchte ich mich waschen bei dieser abstoßenden Harmonik! Aus einer Hosentasche zieht Lewadski ein Tuch und fährt sich damit über die drei Furchen auf seiner Stirn. Er trocknet seinen Truthahnhals, die Augen, voller Ekel wischt er sich über den Mund. In der Dunkelheit erscheint ihm das Tuch blutbeschmiert. Mit einem entsetzten Schrei wirft es Lewadski auf den Boden.
»Ruhe!«, faucht eine Frauenstimme im Saal. Herr Witzturn rührt sich nicht. Vorsichtig fasst sich Lewadski ins Gesicht auf der Suche nach einer Wunde, doch er findet nichts. Zwischen den Stuhlbeinen tastet er nach dem Tuch, bekommt es zu fassen und richtet sich keuchend wieder auf, das Taschentuch zwischen zwei Finger geklemmt. An der Balustrade schlägt er sich hart den Kopf an, und während das Tüchlein erneut zu Boden fällt, verkündet Lewadski ungehemmt, wenn auch kurz, seinen Schmerz hinein in den Goldenen Saal des Musikvereins.
Herr Witzturn fährt aus seinem Traum hoch. Sein Schrei legt sich nur den
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