Wer Liebe verspricht
Unsinn, Estelle! Er hat in letzter Zeit so viele Probleme in seiner Firma. Und deine Mutter …«
»Ich werde in Aschenputtel auftreten, Olivia«, erklärte Estelle, und ihre Stimme zitterte vor Erregung. »Mama wird mich diesmal nicht daran hindern! Hicks hat alle Kostümänderungen akzeptiert, die Mama zur Bedingung gemacht hat, aber ungeschminkt kann man nicht auf die Bühne, sagt Clarissa … ach zum Teufel!« Sie ließ sich wütend gegen das Polster fallen und verschränkte die Arme. »Ich verstehe einfach nicht, was der ganze Aufruhr soll.«
Olivia verstand es im Grunde auch nicht. »Mich mußt du nicht überzeugen«, sagte sie bedrückt. »Warum sprichst du nicht mit deinem Vater, und bringst ihn auf deine Seite?«
»Papa?« Estelle lachte verächtlich. »Papa denkt nur noch an seine blöde Kohle. An mich denkt er jedenfalls nicht mehr!«
»Aber du weißt doch, daß die Kohle für ihn wichtig ist …«
»O ja, das weiß ich – sehr viel wichtiger als seine Tochter!«
Olivia sah ihre Cousine nachdenklich an und entdeckte überrascht, daß Estelle sich verändert hatte. Die üblicherweise lebhaft glänzenden Augen wirkten teilnahmslos und stumpf und hatten dunkle Ringe. Die kindlichen Züge wirkten verkrampft, und das runde Gesicht war schmaler geworden. Spannungen und Sorgen sprachen aus diesem Gesicht und nicht die Unzufriedenheit des verwöhnten Kindes. Estelle war offenbar ebenso unglücklich wie ihre Mutter. Olivia sagte sich schuldbewußt, sie hätte das sehr viel früher bemerken müssen, und nahm ihre Cousine in die Arme.
»Du darfst nie, nie glauben, daß dein Vater dich nicht mehr liebt«, sagte sie, denn sie erkannte den eigentlichen Grund für Estelles Unzufriedenheit und Kummer. »Für Onkel Josh bist du das Wichtigste auf der Welt, vergiß das nicht.«
Estelle lehnte sich an Olivias Schulter, und ihr Körper begann zu zucken. »Nicht mehr, Olivia, nicht mehr.« Sie schluchzte.
»Du alberne Gans – wenn dich jemand liebt, sagt er es dir nicht immer. Das weißt du doch auch! Die Sprache des Herzens ist oft stumm.«
Estelle hörte auf zu weinen. »Wirklich …?«
»Natürlich. Man muß nur die Augen schließen und ganz genau hinhören.«
»Aber das ist nicht genug …!«
Die Kutsche fuhr langsam am Fluß entlang. Unbewußt richtete Olivia den Blick über die Schulter ihrer Cousine hinweg auf die hohen stolzen Masten von Jais Klipper. »Weißt du, manchmal muß man sich damit begnügen, Estelle …«
Ihre Cousine trocknete sich die Augen und schien Olivias wohlgemeinten Trost zu akzeptieren. »Ja, vermutlich hast du recht«, sagte sie und seufzte tief und lange. »Ich werde versuchen, mich damit zu begnügen.«
Olivia wurde unwohl bei dieser sehr oberflächlichen Formulierung. Und sie fragte sich beklommen: Ist es mir gelungen, mich damit zu begnügen …?
Olivia verriet ihrer traurigen Cousine nicht, daß sie beschlossen hatte, in allernächster Zeit mit ihrem Onkel über seine Tochter zu sprechen, die sich von ihm so vernachlässigt fühlte.
*
Jai erschien weder am nächsten Morgen noch am Tag darauf. Olivia balancierte mühsam über dem Abgrund der wachsenden Zweifel und Unsicherheiten. Sie litt unter tausend Ängsten und den schlimmsten Befürchtungen. War er krank oder nur zu beschäftigt? War sie ihm plötzlich gleichgültig … Dieser letzte Gedanke trieb sie zu Selbstvorwürfen und Reue. Hatte sie ihn unbewußt beleidigt, womöglich etwas gesagt, das ungewollt in dem scheinbar unzerstörbaren Schutzschild einen Riß hervorgerufen hatte? War er ihrer überdrüssig? Olivia geriet in Panik. Jai Raventhorne war für sie inzwischen zu einer Droge geworden, die eine ebenso tödliche Fessel war wie das Opium, das er so verachtete. Sie konnte ohne die jämmerlich kurzen Momente des Zusammenseins den Tag nicht überstehen. Ihre seelische und körperliche Gesundheit hing davon ab. Er war ihr Opium und die tägliche Ration wichtiger als alles andere. Bei der Erkenntnis der qualvollen Abhängigkeit von seinen Launen regte sich ihr Zorn. Er hatte nicht das Recht, sie einer so willkürlichen und unverdienten Folter zu unterwerfen. Sie hatte das Recht, ihn aufzusuchen und zur Rede zu stellen. Sie konnte und wollte diese Entwürdigung nicht länger hinnehmen. Sie würde nicht mehr auf seine Gnade warten, nach seiner Pfeife tanzen und all ihren gesunden Menschenverstand seinen widernatürlichen Anwandlungen opfern. Sie hatte ihm zu oft verziehen. Damit war es jetzt vorbei.
Gegen
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