Wer Liebe verspricht
alle Vernunft tat Olivia etwas, das sie noch nie getan hatte. Sie ritt eines Morgens nach Chitpur und hämmerte energisch an das große schwarze Tor. Aber ein anderer als Bahadur oder einer von Jais Leuten, den sie kannte, öffnete schließlich ärgerlich die kleine Tür im Tor. »Ich möchte den Sarkar sprechen!« Sie gab sich keine Mühe mehr, ihren Zorn zu verbergen, und der in fließendem Hindustani gesprochene Satz klang wie ein Befehl. Sie nannte Raventhorne bei dem Namen, den sie von seinen Leuten gehört hatte. Aber hinter ihrer herrischen Maske verbarg sich Unsicherheit. Lag er vielleicht noch im Bett – mit Sujata …!
»Der Sarkar ist leider nicht zu Hause.« Der Mann hatte sie offenbar erkannt. Seine anfängliche Gereiztheit war einem respektvollen Ton gewichen.
Olivias Entschlossenheit brach in sich zusammen und verwandelte sich in bittere Enttäuschung. Es war ihr gleichgültig, was der Mann von ihren Fragen halten mochte. War der Sarkar vielleicht auf der Ganga? Der Mann hielt das für möglich, aber er wußte es nicht genau. Wann würde der Sarkar nach Chitpur zurückkommen? Er wußte es nicht genau, denn der Sarkar hatte nichts gesagt. Olivia mußte einsehen, der Mann wollte keine klare Antwort geben. Vielleicht hatte er Anweisungen. Nur die wachsende Panik brachte sie dazu, sich soweit zu erniedrigen, daß sie die Frage stellte, die nicht zu stellen sie sich geschworen hatte. »Ist …«, was wäre das richtige Wort? »… die Herrin vielleicht zu Hause?«
Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich. »Nein, die Herrin ist weg.«
Von neuem stieg die Panik in Olivia auf – weg? Hatte er sie mitgenommen? »Weißt du, wo sie ist?«
Im Gesicht des Mannes zuckte es – belustigt? Er schüttelte den Kopf. »Sie ist dorthin zurück, wo sie hergekommen ist.«
Olivia wußte, es war hoffnungslos. Sie ging, ohne ihren Namen zu hinterlassen. Sie hatte sich selbst zum Narren gemacht. Sie saß völlig niedergeschlagen allein am Fluß und verwünschte Jai, weil er sie so tief gedemütigt hatte. Dann verwünschte sie sich, weil sie es sich von ihm gefallen ließ. Sie ritt nach Hause, schützte Migräne vor, schloß sich in ihr Zimmer ein und weinte. Jai hatte sie zu einer hirnlosen Puppe gemacht, zu seiner Sklavin! Sie wollte ihn nie wiedersehen. Sie mußte ihn aus ihrem Herzen reißen, aus ihren Gedanken verbannen – und wenn sie daran sterben würde!
Aber am nächsten Morgen tauchte Jai in der Nähe des Tempels in Kalighat plötzlich neben ihr auf. Sie ritt eben noch allein durch die ruhige Straße, und im nächsten Augenblick streifte Shaitan beinahe Jasmines Flanken, die vor Schreck stieg und Olivia beinahe abgeworfen hätte. Olivia stieß einen Schrei aus, aber er galoppierte bereits außer Hörweite von ihr und sah sich sorglos nach ihr um. Olivia folgte ihm benommen und gehorsam aus dem Basar. Sobald sie freies Feld erreichten, sprang Olivia aus dem Sattel und warf sich zitternd und schluchzend in seine Arme.
Er hat mich doch nicht verlassen.
Jai beruhigte sie mit zärtlichen Händen und leisen Worten. Ihr Gefühlsausbruch machte ihn fassungslos. »Warum wolltest du mich gestern sprechen?«
»Warum?« Olivia stieß ihn heftig zurück. Der unterdrückte Zorn explodierte, und sie hämmerte mit Fäusten gegen seine Brust. »Wie kannst du es wagen, mir diese dumme, törichte und kindische Frage zu stellen! Ich habe dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen!«
Er packte ihre Handgelenke und hielt sie fest. »Es sind genau vier Tage.« Er gab ihr keine weiteren Erklärungen.
»Keine Haarspaltereien, du herzloser … Monolith !« schrie sie. »Ich habe nur an dich denken können und an nichts anderes!«
»Du denkst zuviel an mich.«
»… und du bist es nicht wert, daß ich mich so auf dich konzentriere!«
»Genau davon versuche ich dich schon die ganze Zeit zu überzeugen.« Er ging zu einem Stein und setzte sich darauf.
»Glaubst du, ich habe mir dieses beklagenswerte Schicksal ausgesucht? Glaubst du, mir gefällt es, wie eine lächerliche Schachfigur herumgeschoben zu werden?« Als er darauf nicht reagierte, ging sie empört zu einem anderen Stein und setzte sich.
Er stocherte nachdenklich mit der Reitpeitsche in der Erde und sah sie dabei nicht an. »Du hast noch einen Kavalier. Entscheide dich doch für ihn.«
Olivia biß die Zähne zusammen. »Ich schwöre dir, wenn du noch einmal sagst, ich soll Freddie heiraten, dann schieße ich dir mit meinem Colt ein Loch in den
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