Wer Liebe verspricht
oder zwei Bissen viel.
*
Olivia schwebte auf Wolken, die sich in eine ungewisse Richtung bewegten. Sie beschäftigte sich nur noch mit Jai und merkte deshalb wenig von dem, was im Haus vorging. Sie registrierte vage, daß ihre Tante und Estelle kaum miteinander sprachen und ihr Onkel nur noch abends zum Schlafen erschien. Deshalb erschrak sie sehr, als sie eines Morgens nach ihrem Ausritt Lady Bridget in Tränen aufgelöst fand. Olivia hatte ihre Tante noch nie weinen sehen, und der Anblick brachte sie aus der Fassung. Sie kniete vor ihr nieder, umarmte sie und fragte: »Estelle?«
Lady Bridget nickte, aber es dauerte eine Weile, ehe sie sprechen konnte. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Olivia. Ich weiß es einfach nicht!« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie putzte sich die Nase. Sie sah Olivia flehend an. »Dieser … dieser Hicks ist ein entsetzlicher Mensch. Du hast ihn ja kennengelernt. Du hast erlebt, wie er den Tee schlürft und wie er lispelt. Ich habe kein Wort verstanden von dem, was er gesagt hat! Und Estelle himmelt ihn an, nur weil sie auf der Bühne stehen will …«
Trotz allen Mitgefühls für ihre Tante fiel es Olivia schwer, sie zu trösten. Mr.Hicks, der einmal zum Tee erschienen war, mochte zwar ein schmieriger Typ sein, aber die ganze Sache kam ihr vor wie ein Sturm im Wasserglas. So diplomatisch wie möglich erklärte sie Lady Bridget, daß die meisten von Estelles Freundinnen mitspielten. Was war eigentlich so schlimm daran, wenn Estelle ebenfalls eine kleine Rolle übernahm?
Lady Bridget sagte aufgebracht: »Ich verstehe nicht, daß Celia Cleghorne ihrer Marie so etwas erlaubt! Von den Smithers kann man natürlich nichts anderes erwarten, denn schließlich …« Sie schloß den Mund und schwieg.
»Aber Charlotte ist eine sehr gute Freundin, sagt Estelle. Bestimmt …«
»Gute Freundin, daß ich nicht lache! Estelle trifft sich hinter meinem Rücken mit Clive. Jane Watkins hat sie neulich abends am Fluß unten gesehen. Er hat ihr die Hand gehalten.«
Olivia versuchte, die Situation zu entschärfen. »Clive ist ein anständiger junger Mann, Tante Bridget. Als Marineoffizier ist seine Zukunft gesichert.«
»Du verstehst das nicht, Olivia!« Lady Bridget sah sie mit großen Augen an. »Herbert Smithers mag in der Ostindien-Kompanie ein hohes Tier sein, aber es ist kein Geheimnis, daß seine Großmutter die Tochter einer Eingeborenen war, die Zimmer vermietete – und einer ihrer Gäste war zufällig ein Smithers. Früher oder später wird es in dieser Familie ein schwarzes Baby geben, das kannst du mir glauben! Und ich werde Estelle eher erwürgen, als das Risiko eingehen, daß sie die Mutter ist!« Plötzlich schwand ihr Zorn, und mit einem unterdrückten Schluchzen schlug sie die Hände vor das Gesicht. »O Gott, o Gott – ich wünschte, wir wären nie, nie in dieses verdammte Land gekommen!«
Olivia erschrak darüber, wie unglücklich ihre Tante war. Außerdem hatte sie noch nie erlebt, daß Lady Bridget fluchte! »Estelle ist in einer schwierigen Phase«, sagte sie sanft, »das geht vorüber. Das haben wir alle durchgemacht.«
»Auch du ?« Wieder füllten sich Lady Bridgets Augen mit Tränen, als Olivia ihr die Hand drückte. »Mein liebes Kind, ich habe mir anfangs Sorgen über deinen Einfluß auf Estelle gemacht. Aber ich habe mich geirrt. Du bist ein Segen für sie. Wenn sie nicht deinem Vorbild folgt, ist es ihre Schuld. Ich wünschte, Estelle hätte etwas von deiner moralischen Stärke!«
Olivia floh.
Schuldgefühle wegen ihrer ungeheuren Gleichgültigkeit gegenüber ihren Verwandten und der große Kummer ihrer Tante bedrückten Olivia so sehr, daß sie beschloß, so schnell wie möglich ein ernstes Wort mit Estelle zu reden. Da ihre Cousine immer länger ausblieb, waren die abendlichen Spazierfahrten selten geworden. Olivia richtete es so ein, daß sie wieder einmal zusammen ausfuhren, und kam ohne Umschweife zur Sache. »Interessierst du dich ernsthaft für Clive, oder ist es nur ein oberflächlicher Flirt, Estelle?«
Ihre Cousine lächelte zufrieden und kokett. »Das möchtest du wohl gerne wissen!«
»Ja, das möchte ich! Du verhältst dich John gegenüber sehr unfair und machst deine Mutter sehr unglücklich.«
»Dann ist es ja gut. Ich habe es satt, daß man mich nicht für voll nimmt!«
»Niemand tut das, Estelle. Ganz im Gegenteil …«
»Papa zum Beispiel! Er weiß nicht einmal, ob ich tot bin oder noch lebe.«
»Das ist doch
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