Wer Liebe verspricht
bevorstehenden Todes.
Jai und Estelle …?
Gnädige Schleier erschöpften Schlafs gewährten hin und wieder Vergessenheit, aber wenn sie sich wieder hoben, fand sich Olivia in noch unwirklicheren Welten und in noch tieferer Verwirrung wieder. Wie eine Fledermaus hing sie kopfüber zwischen Traumwelten, in denen nichts darauf hinwies, wo sie war, wer sie war, warum sie war. Und dann war die Nacht plötzlich vorüber. Durch die Spalten der Vorhänge fiel Licht. Im Garten fingen die ersten Vögel an zu zwitschern. Auf einer Fensterbank saß eine Krähe und krächzte laut, als überbringe sie eine lebenswichtige Nachricht, die keinen Aufschub duldete. Olivia stand auf, dehnte und reckte die gefühllosen Glieder und verjagte den Vogel, da das laute Geschrei sie reizte. Lady Bridget atmete gleichmäßig. Ihr Mund stand offen, und ein Arm hing über den Bettrand. Die Aja hatte sich draußen vor dem Zimmer auf eine Strohmatte gelegt. Sie bewegte sich, schlief aber offenbar weiter. Olivia weckte sie nicht. Sie wusch sich mit kaltem Wasser, kämmte sich die Haare, flocht sie zu einem Zopf und ging die Treppe hinunter.
Ein neuer Morgen, ein neuer Tag – eine neue Zeit. Alles war anders und doch unverändert – auch der Durst auf eine Tasse Tee.
Sir Joshua war nicht in seinem Arbeitszimmer, Olivia fand ihn im hinteren Teil des Gartens. Er saß zusammengesunken auf der Mauer und hatte wie als Schutz vor der herbstlichen Kühle die Hände um die Knie gelegt. Sie stellte das Tablett mit dem Tee neben ihn, ging ins Haus, um seinen Wollumhang zu holen. Dann legte sie ihn dem reglos vor sich hin starrenden Onkel fürsorglich um die Schultern. Er hob den Kopf, und ihr stockte vor Schreck der Atem. Während der Nacht waren seine Haare grau geworden. Die Augen lagen eingesunken in schwarzen Höhlen und wirkten wie tote Seen mit stehendem Wasser. Im fahlen, gespenstischen Morgenlicht spannte sich die rissige, trockene Haut gelblich über spitz hervorstehenden Backenknochen. Gestern hatte er noch ganz anders ausgesehen. Über Nacht schien der Kern seines Wesens nicht mehr da zu sein. Er hatte sich wie eine Schlange gehäutet und die leere Hülle zurückgelassen. Sir Joshua war in zehn Stunden um zehn Jahre gealtert.
Olivia sagte nichts. Es gab nichts zu sagen, selbst ein ›Guten Morgen‹ wäre für sie beide blanker Hohn gewesen. Schweigend hing jeder seinen Gedanken nach, während sie so ernst wie nach einem Begräbnis den heißen Tee tranken. Plötzlich seufzte Sir Joshua, und ein Schauer lief durch den Körper, der noch am Tag zuvor Ausdruck eines starken Mannes gewesen war. Er sagte nichts, nur eine Träne lief ihm unbemerkt über das Gesicht. Olivia stellte die Tassen auf das Tablett und ging ins Haus zurück. Sie überließ ihn seinem Kummer. Jeder von ihnen brauchte jetzt Einsamkeit, um die Wunden zu lecken.
Im Haus wurde es lebendig. Rehman wusch in der Teeküche Äpfel und schnitt sie zum Frühstück in Scheiben. Der Gwala hatte bereits die zwei Kühe im Stall auf dem Dienstbotengelände gemolken. Die Milch stand zum Kochen auf dem Herd. Ein zweiter Diener richtete Geschirr und Besteck, um den Frühstückstisch auf der rückwärtigen Veranda zu decken, wo die Mahlzeiten im Winter eingenommen wurden. Vor der Küche wartete Babulal auf Anweisungen und Geld für die täglichen Einkäufe im Basar. Der Jamadar, der Kutscher, die Gärtner, der Wachmann, alle standen stumm und mit ernsten Gesichtern draußen in einer Reihe. Sie alle wußten, es war etwas Schlimmes geschehen. Nur der Sohn des Stallburschen sagte etwas. Er folgte Olivia ins Eßzimmer und berichtete leise, die Ganga habe bereits die Anker gelichtet, als er am Fluß angekommen war. Er rechnete bekümmert damit, daß die Miss die Rupie zurückverlangen werde, die sie ihm für den Bootsmann gegeben hatte. Aber Olivia hatte das bereits vergessen. Sie nahm den Umschlag, den er ihr reichte, zerriß ihn in kleine Stücke und warf die Schnitzel in den Papierkorb.
»Ja, ich weiß.«
Dann teilte sie jedem Dienstboten seine Aufgaben zu, besprach mit Babulal den Essensplan für den Tag und schickte ihn auf den Markt. Für ihre Tante und den Onkel ließ sie zum Frühstück Hafergrütze kochen und Obstsaft vorbereiten. Dann weckte sie die Aja. Lady Bridget begann, sich unruhig im Bett hin und her zu werfen. Olivia legte ihr die Hand auf die warme Stirn, dann befeuchtete sie ein Handtuch, besprengte es mit Eau-de-Cologne und betupfte damit das Gesicht der
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