Wer Liebe verspricht
ist mit dir los? Bist du krank?«
Sie erhielt wieder keine Antwort, nur der Brief fiel ihr aus der starren Hand und in ein Blumenbeet vor der Veranda. Mit einem angstvollen Schrei sprang Olivia dem Blatt Papier nach und hob es auf. Es war eine Nachricht von Estelle. Die kleinen, engen Schriftzüge füllten das Blatt auf der Vorder- und Rückseite. Olivia hatte keine Zeit zu lesen, was in dem langen Brief stand. Die ersten beiden Sätze sagten alles.
Jai Raventhorne hatte auf der Ganga mit der Nachmittagsflut Kalkutta verlassen. Ihre Cousine Estelle Templewood fuhr mit ihm.
Elftes Kapitel
Es gab so viel zu tun.
Die bewußtlose Lady Bridget wurde nach oben getragen und mit einer Wärmflasche zu Bett gebracht. Der Kutscher machte sich auf den Weg, um Dr.Humphries zu rufen. Rehman eilte mit einer Nachricht für Sir Joshua zu Barnabas Slocum in das Polizeipräsidium im Lal Basar. Olivia hielt ihre Mitteilung bewußt ungenau: Bitte komm sofort. Tante Bridget ist krank. In Anbetracht der Wahrheit war es eine kühne Untertreibung. Es würde genügen, um Sir Joshua herbeizuholen, ihn jedoch nicht sofort in Panik versetzen. Die Panik und alles andere würden noch früh genug kommen.
Olivia gab klare und energische Anweisungen. Sie verhielt sich ruhig und war der Lage gewachsen, erledigte alles Notwendige mit der mechanischen Exaktheit einer Marionette, die gehorsam dem festen Zug unsichtbarer Fäden folgt. Ihr Kopf war leer. Nur ein Winkel war unerklärlicherweise aktiv und völlig klar. Sie befand sich wie in einer Traumlandschaft, in der sie losgelöst von sich selbst alles mit Gelassenheit betrachtete. Aus diesem Winkel ihres Bewußtseins kam auch die Erkenntnis, daß sie nach vielen Seiten hin handeln mußte. Sie schwankte nicht, während sie blitzschnell die Lage unter den verschiedenen Aspekten beurteilte; sie mußte nicht nachdenken – dazu blieb auch keine Zeit.
Gnädigerweise …
Als erster erschien Dr.Humphries. Er eilte so behend und vital die Treppe hinauf, wie man es dem weit über Sechzigjährigen nicht zugetraut hätte, stürmte in das große Schlafzimmer und klappte die schwarze Tasche auf, von der er sich niemals trennte und die zu den tröstlichen Anblicken in der Stadt gehörte. Er griff nach seiner Taschenuhr und überprüfte Lady Bridgets Puls, während die Bewußtlosigkeit langsam von ihr wich. »Nichts Schlimmes«, brummte er, hob nacheinander ihre Lider und sah sich die Augen genau an. »Weshalb ist sie denn ohnmächtig geworden? War es eine Art Schock?«
Olivia nickte. »Sie hat einen Brief ihrer Cousine aus England gelesen, in dem stand, eine sehr gute alte Freundin sei gestorben.« Es war die erste der vielen glaubwürdigen Lügen, die Olivia erfinden mußte.
»Sentimentaler Quatsch!« schimpfte Dr.Humphries. »Wir müssen alle einmal gehen! Aber machen Sie sich keine Sorgen«, er tätschelte Olivia freundlich den Arm, »Ihre Tante ist noch nicht an der Reihe, noch lange nicht. Bridget ist hart im Nehmen, und sie wird sich bald wieder ins Geschirr legen. Haben Sie Laudanum im Haus?« Olivia nickte, holte es und hörte aufmerksam seinen Anweisungen zu, die wie immer praktisch und vernünftig waren. Als er anschließend unten im Wohnzimmer mit Genuß eine Tasse Hühnerbrühe trank, die Olivia ihm angeboten hatte, fragte er: »Und wie geht es Ihnen, junge Dame? Sie sehen wie das blühende Leben aus, wie neu geboren …«
»Mir geht es gut, danke.«
»Na also! Aber übernehmen Sie sich nicht. Wir wollen doch keinen Rückfall riskieren, nicht wahr?« Er zog seine Taschenuhr hervor und warf kopfschüttelnd einen Blick darauf. »Mir bleibt wirklich nichts erspart! Eine Frau hat sich in den Kopf gesetzt, ihr Kind zwei Wochen früher zu bekommen, und natürlich nur, um mir meinen Billardabend zu vermasseln.« Er stieß ein dröhnendes Gelächter aus, das so fehl am Platz war, daß Olivia zusammenzuckte.
»Arbeitet Josh noch?«
»Ja, aber er müßte jeden Augenblick hier sein. Ich habe ihn benachrichtigt.«
»Sagen Sie ihm, er soll sich keine unnötigen Sorgen um seine Frau machen. Sie wird ihn überleben, und das mit größter Sicherheit, wenn er nicht schleunigst aufhört, wie ein Matrose nach der Flasche zu greifen.« Er sprang die wenigen Stufen zur Auffahrt hinunter und schob die Arzttasche in die Kutsche. »Und wo ist mein Schnattergänschen? Das eitle Fräulein putzt sich natürlich wie alle ihre strohköpfigen Freundinnen für die Operette heraus, hab’ ich recht?«
Nur wenige
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