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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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Kinder von Europäern waren in den vergangenen dreißig Jahren nicht mit Dr.Humphries’ Hilfe zur Welt gebracht worden. Estelle gehörte zu den vielen, und er hatte sie besonders ins Herz geschlossen. »Nein, Estelle spielt bei der Operette nicht mit. Sie verbringt das Wochenende bei Freunden.« Olivia staunte über die Leichtigkeit, mit der sie seine Frage beantwortete. Sie staunte auch über die instinktive Klugheit, den Namen der Pringles nicht zu erwähnen, denn es gab kaum Engländer, die Dr.Humphries nicht gut kannte.
    Als Olivia den freundlichen Arzt verabschiedet hatte, trank sie eine Tasse Tee, die der umsichtige Rehman ihr brachte, und dachte kühl und leidenschaftslos über die nächsten Schritte nach. Sie mußte noch mehr Lügen erfinden, um den Zusammenbruch ihrer Tante zu erklären. Lügen, mit denen man Estelles Verschwinden aus der Stadt vertuschen konnte, hatten noch etwas Zeit. Sie durfte auch nicht vergessen, daß Sir Joshua ein Alptraum bevorstand. Was sie selbst betraf, spürte sie immer noch nicht die leiseste Regung. Ihre Fähigkeit, etwas zu empfinden, schien ausgelöscht zu sein.
    Sir Joshua kam eine halbe Stunde später teils bestürzt, teils verärgert nach Hause. »Was zum Teufel ist denn mit Bridget los? Als ich gegangen bin, war sie doch noch völlig gesund! Ist Humphries schon da gewesen?« Er konnte seine Ungeduld kaum unterdrücken.
    »Ja. Er sagt, es besteht kein Anlaß zur Sorge. Es ist nichts Ernstes. Im Augenblick schläft sie.«
    »Nichts Ernstes?« rief er empört. »Warum hat man mich dann gerufen? Ist dir klar, daß mich deine Nachricht bei einer wichtigen Angelegenheit gestört hat?«
    »Ja, aber ich habe die Nachricht geschickt, ehe Dr.Humphries hier war.« Olivia empfand seinen Zorn plötzlich als lächerlich. Vermutlich hatte er erfahren, daß die Ganga ausgelaufen war. Offenbar wußte er jedoch noch nichts von dem zusätzlichen Passagier an Bord. »Ernst ist etwas anderes, nicht Tante Bridgets Krankheit.«
    Sie sprachen vor der Schlafzimmertür miteinander. Sir Joshua wollte bereits wieder die Treppe hinuntereilen, blieb aber bei ihren Worten wie angewurzelt stehen. In dem herrischen, harten und zornigen Gesicht bewegte sich nichts. Er hob nur fragend eine Augenbraue. Er schien nicht das Geringste zu ahnen, nichts von der Katastrophe zu spüren. Mitleid erfaßte Olivia. Sie gab ihm wortlos den Umschlag mit Estelles Brief und ging dann leise zu ihrer Tante in das Schlafzimmer.
    Sir Joshua verließ an diesem Abend das Haus nicht – auch nicht an vielen folgenden Abenden.
    Olivia zog die Vorhänge zu und schickte die Aja zum Abendessen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und nahm ihre Krankenwache wieder auf. Lady Bridget schlief noch immer. Das tröstliche Wasser Lethes schützte sie. Aber wie lange noch? Auf einer Kommode brannte eine Petroleumlampe. Ihr sanfter Lichtschein lockte einen großen hellbraunen Nachtfalter mit rotgeränderten Flügeln an. Zur Selbstvernichtung entschlossen, flog er hartnäckig immer wieder gegen den glühend heißen Glaszylinder, fiel schließlich, wie er es verdient hatte, mit verbrannten Flügeln auf den Boden, zappelte und zuckte noch eine Weile und starb. Olivia beobachtete die Tragödie ohne Mitgefühl. Sir Joshua kam nicht wieder nach oben.
    Jai und Estelle …
    Die Nacht verging. Die Wanduhr aus Fayence zählte laut tickend die bleiernen Sekunden. Lady Bridget lag leise schnarchend im Bett und schlief. Die Aja lehnte in unbequemer Haltung an der Wand und nickte immer wieder ein. Draußen kamen und gingen die Geräusche der Nacht: der unharmonische Chor der Zikaden, die raschelnde Symphonie der Blätter, die eintönigen Rufe des Nachtwächters, der damit mögliche Diebe abschreckte. Die Lampe begann aus Mangel an Petroleum zu qualmen und zu flackern. Als sie verlosch, bemerkte Olivia die zusätzliche Dunkelheit nicht.
    Bruchstückhaft zogen Dinge vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie lösten Bilder, Gedanken, Träume und Erinnerungen aus, die wahllos auftauchten und wieder verschwanden. Sie hinterließen keinen besonderen Eindruck; Olivia schien die vorbeiziehenden Ereignisse eines anderen Lebens zu betrachten. Sie waren ihr fremd und prallten an dem erstarrten Bewußtsein ab wie Regentropfen an einer undurchdringlichen Oberfläche. Nur die gleichmäßigen und unaufhörlichen Schläge ihres Herzens machten ihr bewußt, daß sie noch lebte. Alles andere umgab sie mit der Unwirklichkeit von Schatten, von Stille und dem Geruch eines

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