Wer Liebe verspricht
Schlafenden.
»Estelle …?« Lady Bridget schlug die Augen auf, und ihr Blick blieb leer.
»Nein, ich bin es, Olivia.«
Lady Bridget stöhnte leise. Das Schlafmittel wirkte noch, und ihr Bewußtsein war getrübt. Olivia gab ihr löffelweise etwas von den beiden Mixturen, die Dr.Humphries verordnet hatte. Dann ging sie in ihr Zimmer, um zu baden und sich umzuziehen.
Estelle und Jai …?
Heilige Mutter Gottes, es gab noch soviel zu tun! Sie schrieb Arthur Ransome eine dringende Nachricht.
*
»Mrs.Drummond?«
Pollys Mutter gähnte, als sie die Tür öffnete. Aber das Gähnen verwandelte sich in ein überraschtes »Oh!« Es war bereits kurz vor neun, und alles wies darauf hin, daß sie erst auf das Klingeln hin das Bett verlassen hatte. Der hastig übergeworfene chinesische Morgenmantel verhüllte nur schlecht die Unterwäsche, und ihre verschlafenen und mit Wimperntusche verschmierten Augen waren noch halb geschlossen.
» Olivia! Das ist aber eine Überraschung!« rief sie verlegen und nicht allzu erfreut. Mit plötzlich hellwachen Augen warf sie einen raschen Blick auf das Zimmer hinter ihr. Sie fuhr sich mit der Hand über die rot gefärbten Haare, die wie ein Spatzennest auf ihrem Kopf klebten, schloß schnell den Kimono und öffnete die Tür. »Kommen Sie herein, Liebes. Kommen Sie! Was führt Sie so früh an diesem sonnigen Morgen hierher?«
Olivia folgte ihr in ein großes, unordentliches Wohnzimmer mit schäbigen, chintzbezogenen Polstermöbeln. Der Geruch nach abgestandenem Zigarrenrauch hing in der Luft. Überall sah man Spuren eines geselligen Abends – benutzte Gläser, schmutzige Teller, überquellende Aschenbecher. Mrs.Drummond beförderte mit einem geschickten Tritt zwei Herrenstiefel hinter ein Sofa. Als Olivia der Aufforderung folgte und in einem durchgesessenen Sessel mit gerissenen Sprungfedern Platz nahm, hörte sie, wie sich hinter ihr eine Tür schloß. Sie wurde rot. »Es tut mir leid, daß ich Sie so früh am Morgen störe, Mrs.Drummond. Aber ich wollte eigentlich Polly sprechen. Ist sie aus Burdwan zurück?«
Der große Mund von Mrs.Drummond, an dem noch die Überreste eines leuchtendroten Lippenstifts klebten, verzog sich zu einem Lächeln, während sie verstohlen einen Blick in Richtung der geschlossenen Tür warf. »Äh … Polly? Nein, sie ist noch nicht zurück. Aber ich erwarte sie jetzt jeden Tag.« Wieder fuhr sie sich nervös durch die dichten Haare. »Verzeihen Sie bitte, Liebes. Ich hatte … gestern Besuch.« Sie lächelte entschuldigend. »Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen. Natürlich muß ich nicht aufräumen, ich habe nämlich Personal, aber auf die Leute ist eben kein Verlaß.« Mit hoher, gekünstelter Stimme stimmte sie ein längeres Klagelied auf die Unzulänglichkeiten ihrer Dienstboten an, ehe sie wieder zum Thema zurückkehrte. »Ich weiß auch nicht, was sie immer noch in Burdwan hält, denn schließlich fangen die Proben für Aschenputtel bald an, und Hicks ist schon völlig aus dem Häuschen. Aber hat Ihnen Estelle nicht gesagt, daß Polly noch nicht da ist?«
Auf dieses Stichwort hatte Olivia gewartet – besser gesagt, sie hatte darauf gehofft. Sie lächelte und lehnte sich zurück, richtete sich aber sofort wieder auf, weil eine Sprungfeder sie in den Rücken stach. »Leider nein, Mrs.Drummond. Wissen Sie«, Olivia lachte leise, »wie Sie sich vorstellen können, war Estelle vor ihrer Abreise furchtbar aufgeregt und hatte keine Zeit, irgend jemandem, geschweige denn mir etwas zu sagen! Ich möchte mir die neuen Noten ausleihen, die Polly sich aus England hat schicken lassen. Ich meine die mit Weihnachtsliedern …«
»Vor ihrer Abreise?« Mrs.Drummond ließ die Gläser auf dem Klavier stehen, die sie geschäftig zusammengestellt hatte. »Wohin ist sie denn gefahren? Ich wußte gar nicht, daß Estelle verreisen will! Ich dachte, sie wollte bei der Aufführung mitmachen.«
Olivia spielte Überraschung. »Wie bitte, Estelle hat nicht einmal Ihnen gesagt, daß sie gestern nach England abgereist ist? Das war aber nicht sehr nett von ihr!«
Mrs.Drummond sank langsam auf den Klavierhocker. »Nach England ? Estelle …« Die schwarzgeränderten Augen wurden groß und sahen Olivia ungläubig an. »Mein Gott, sie hat mir nichts gesagt, kein einziges Wort! Und ich habe sie noch vor ein paar Tagen bei Whiteaways gesehen. Sie hat Bänder gekauft …« Mrs.Drummond schien verwirrt. »Merkwürdig! Sehr merkwürdig, einfach abzureisen, ohne jemandem
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