Wer Liebe verspricht
Chinageschäft lernt man, sich zu wehren, wenn man bedroht wird. Man schont niemanden und wird nicht geschont. Josh hörte nicht mehr auf die Stimme der Vernunft. Er wollte Raventhornes Freundschaft mit Arvind Singh zerstören und das Vertrauen des Maharadscha in seinen Freund. Dann hätte das Konsortium die Lücke füllen und die zerstörte Kohlengrube übernehmen können. Arvind Singh hätte bereitwillig und dankbar das Angebot angenommen. Raventhorne wäre in Kirtinagar für immer persona non grata gewesen – und säße natürlich im Gefängnis. Genau darauf zielte Joshs Plan. Gerechterweise muß man hinzufügen, er hatte nicht beabsichtigt, daß ein Mensch dabei ums Leben kam.«
»Kein Mensch«, murmelte Olivia geistesabwesend, ohne richtig zuzuhören, »nur ein Eingeborener …«
Der aufrichtig bekümmerte Ransome überhörte ihre Bemerkung.
»Estelles Flucht hat Josh völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, aber meine moralische Verantwortung bleibt, Olivia. Ich werde vor unserer Abreise nach Barrackpore mit dem Maharadscha sprechen. Wenn Arvind Singh so großmütig ist, mich in Kirtinagar zu empfangen, werde ich ihn um Verzeihung bitten. Ich werde mich bereitwillig demütigen. Es muß eine Wiedergutmachung angeboten werden, eine substantielle Wiedergutmachung für die Zerstörung.«
Olivia hing ihren eigenen Gedanken nach und konnte sich nicht länger auf Ransomes Worte konzentrieren. Die Vergangenheit beschäftigte sie ohnehin nicht mehr. Aber bei der Erwähnung von Kirtinagar sah sie Kinjal wieder vor sich und hörte klar und deutlich ihre Worte: Ich habe Angst um Sie. Olivia spürte einen feinen Stich in ihrem Herzen: Wie sollte sie Kinjal je wieder unter die Augen treten?
»Wenn Onkel Josh auf seine Mutter gehört hätte, wäre das alles nicht geschehen.«
Olivia wurde erst bewußt, daß sie laut gedacht hatte, als Ransome antwortete: »Das stimmt.« Er verzog das Gesicht. »Ich kenne keinen Mann, dem so viele den Tod wünschen! Aber Jai ist wie ein Phönix. Er überlebt, er erträgt, er erhebt sich immer und immer wieder aus der Asche. Und er kehrt in unser Leben zurück. Und Gott sei es geklagt, er wird auch diesmal zurückkommen!«
Der feine Stich hatte Olivia daran erinnert, daß sie trotz allem noch lebte, und nun spürte sie den Stich deutlicher. Er ließ sich nicht ignorieren. Auch wenn es ihr alles nichts mehr nützte, jetzt wollte sie die ganze Wahrheit wissen.
»Wann hast du ihn damals wiedergesehen, Onkel Arthur?«
Sie mußte nicht ausführlicher fragen, denn die Vergangenheit lebte klar und deutlich in ihm. »Wann?« Ransome kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ungefähr sechs Jahre danach. Eines Morgens fand ihn Josh vor dem Tor. Er stand einfach da – wie Lazarus, der von den Toten auferstanden ist!«
Unwillkürlich blickte Olivia zum Fenster, beinahe als stehe er immer noch am Ende der Auffahrt vor dem Tor. Sie überlegte schnell – acht plus sechs sind vierzehn … Er mußte damals in dem Gasthaus gearbeitet haben. Welch eine Ironie: Als sie sich leidenschaftlich danach sehnte, die dunklen Bereiche seines Lebens zu ergründen, blieben sie ihr verschlossen. Jetzt fand sie plötzlich einen Zugang, ohne einen Nutzen daraus ziehen zu können. Aber in der dürren Wüste ihrer Seele spürte sie noch ein Lebenszeichen, einen Schmerz, nur einen Schmerz, der aber ach so willkommen war.
»Was wollte er?«
Ransome hob beide Hände. »Nichts. Er stand nur am Tor. Als Joshs Kutsche auf dem Weg zum Kontor an ihm vorbeirollte, blickte er ihn lediglich durchdringend und lange an. Er sagte nichts. Josh nahm ihn nicht zur Kenntnis. Aber dann machte es sich der Junge zur Angewohnheit, jeden Morgen mit diesem starren Blick dort zu stehen, wenn Josh das Haus verließ. Er sagte nichts, er bewegte sich nicht, er starrte ihn nur an. Nach drei oder vier dieser merkwürdigen und sinnlosen Begegnungen wurde Josh nervös. Im Blick des Jungen lag eine solche Drohung – Josh bezeichnete es als Haß –, daß er nahe daran war, wieder die Geduld zu verlieren. Zuerst übersah er den Jungen …« Ransome brach ab und erklärte dann: »Weißt du, obwohl er acht Jahre in meinem Haus gelebt hatte, war es mir nie in den Sinn gekommen, mich nach seinem Namen zu erkundigen. Für mich war er immer ›der Junge‹ oder ›der verdammte Junge‹. Erst nachdem er verschwunden war, erfuhr ich von den Dienstboten, daß seine Mutter ihn Jai nannte.«
»Wie ich gehört habe, bedeutet es ›Sieg‹«, murmelte
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